Das Physikwissen österreichischer Maturantinnen
Eine Analyse der Ergebnisse
der TIMS-Studie aus geschlechtsspezifischer Perspektive
Helga Stadler
Kapitel 2
Fachdidaktische Analyse der österreichischen SchülererInnenergebnisse
bei TIMSS Pop 3 – Betrachtung der Ergebnisse in geschlechtsspezifischer Hinsicht
2. 1. Einleitung
2. 2. Internationale Ergebnisse – ein Überblick
2. 3. Österreichische Ergebnisse
2. 3.1. Naturwissenschaften – Allgemeinwissen
2. 3.2. Physik – Fachwissen
2.4. Erklärungsansätze
2. 5. Schlussfolgerungen und Konsequenzen
2. 6. Naturwissenschaftlicher Unterricht für Mädchen und Buben -
Fachdidaktische Anregungen für einen geschlechtssensiblen Unterricht
2. 1. Einleitung
Eine erste internationale Analyse der
Ergebnisse von TIMSS hat ergeben, dass Mädchen bei diesen Tests in allen Ländern (mit
einer Ausnahme) schlechter abgeschnitten haben. Aus österreichischer Sicht führt das
Ergebnis zu einer Reihe von Fragestellungen:
- Welche Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Burschen lassen sich aus der
TIMS-Studie ablesen?
- Bei welchen Aufgaben sind die Unterschiede besonders stark ausgeprägt?
- Wie sind Unterschiede zwischen den Leistungen im internationalen Kontext zu sehen?
- Inwiefern lassen sich die in den Test-Ergebnissen gefundenen Unterschiede durch die in
Top 1 formulierten Hypothesen zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede
bestätigen?
- Welche geschlechtsspezifischen Stärken und Schwächen lassen sich aus den Ergebnissen
ableiten.
- Welche Hypothesen für das österreichische Bildungssystem lassen sich aus den
Ergebnissen der Analysen ableiten?
2. 2. Internationale Ergebnisse – ein Überblick
International betrachtet erzielen Schüler beim TIMSS-Test bessere Ergebnisse
als Schülerinnen. Die Unterschiede sind in der Population III am stärksten
ausgeprägt und in den einzelnen Ländern unterschiedlich, aber immer
statistisch signifikant (ausgenommen Südafrika). Im internationalen Vergleich
zählt Österreich zwar zu jenen Ländern, in denen der Anteil
jener Mädchen, die im letzten Jahr ihrer Schulzeit Physikunterricht haben
besonders hoch ist, zugleich aber auch zu jenen Ländern, in denen die
Unterschiede in den Testleistungen zwischen Mädchen und Buben besonders
ausgeprägt sind. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Unterschiede
in der Physik besonders hoch sind, weniger signifikant im Allgemeinwissen.
Österreich zählt zu jenen Länder, in denen der Unterschied zwischen
den Geschlechtern in allen Wissensbereichen (ausgenommen Allgemeinwissen –
Biologie) signifikant hoch ist. Das Problem der Unterschiede zwischen den Geschlechtern
tritt auch in der Physik stärker zutage als in der Mathematik.
2. 3. Österreichische Ergebnisse
2. 3.1. Naturwissenschaften – Allgemeinwissen
Vorbemerkung
Die Analysen beruhen auf den Ergebnissen, die in G.Haider:
Population 3 – Österreich – Bericht an das BMUK 1996 veröffentlicht
sind, sowie auf eigenen Berechnungen von Prozent – Korrekt – Mittelwerten
aus Tabellen, in denen die Prozent-Korrekt-Werte für einzelne Items
angegeben sind. Der Leistungsvergleich wird ausschließlich mit Mitteln der
deskriptiven Statistik durchgeführt.
Gesamtergebnis
Die Prozent-Korrekt-Werte (=Prozentsatz der richtigen Lösungen)
der Mädchen liegen in allen Schulsparten deutlich unter denen der Burschen.
Über alle Schulsparten und Aufgaben hinweg beträgt die Differenz
zwischen den Geschlechtern 9 %, am geringsten ist sie mit 7% in der AHS,
am deutlichsten mit 14% in der BMS. Der Leistungsmittelwert beträgt
bei den Burschen 554, bei den Mädchen 501. Differenziert man nach Inhalten,
dann zeigt sich, dass bei jenen Aufgaben, die eher biologisch orientiert
sind, in praktisch allen Schulsparten Mädchen und Buben gleich gut
abschneiden. Signifikante Differenzen ergeben sich dagegen in der Physik
und den Erdwissenschaften.
Aufgliederung nach Schulsparten
Höhere Leistungen der Buben finden sich in allen Schultypen, wobei,
wie die Tabelle zeigt, der Unterschied zwischen den Geschlechtern in der BMS am größten
ist. Die Mädchen erreichen dort weniger als 80% des Burschenergebnisses; am geringsten
ist der Unterschied in der AHS, wo die Mädchen praktisch 90% der Burschenergebnisse
erzielen.
Prozent korrekt |
|
AHS |
|
BHS |
|
BMS |
|
BS |
|
- Unter den 25% Besten aller Schulsparten befinden sich 47% der AHS-Maturanten, 65% der
BHS-Maturanten und 45% aller BMS-Schüler, aber nur 30% der AHS- bzw. BHS-Maturantinnen.
Umgekehrt sind unter den 25% SchülerInnen mit den schwächsten Leistungen 51 % der
Berufsschülerinnen, aber auch 8 % der AHS- wie BHS-Maturantinnen.
- Nur 14% der AHS-Maturantinnen und 18% der BHS-Maturantinnen konnten mindestens ¾ der
gestellten einfachen Aufgaben korrekt lösen, dagegen 31% der Fachschüler. Die
Fachschüler sind damit etwa ebenso gut wie die AHS Maturanten, am besten schneiden die
BHS Maturanten (46%) ab.
- Auffallend sind auch die Unterschiede in der BMS, wo mehr als ein Drittel der Burschen
¾ der Aufgaben richtig lösten, aber nur 2% der Mädchen.
- Rund jede vierte österreichische Maturantin (AHS 31%, BHS 22%), die
Mehrzahl der BMS-Schülerinnen (51%) und 70% der Berufsschülerinnen
lösten weniger als die Hälfte der gestellten Aufgaben. Berufsschüler
sind jene Gruppe, die mit Abstand am schlechtesten abgeschnitten hat, aber
auch hier ist der Unterschied zwischen Burschen und Mädchen deutlich.
70% der Berufsschülerinnen und 50% der Berufsschüler haben weniger
als 50% der Aufgaben richtig gelöst. Berufsschülerinnen sind damit
jene Gruppe, die mit Abstand die schlechtesten Ergebnisse aufweisen.
Aufgliederung nach Stoffgebieten
Deutlich wird die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern in den
Stoffgebieten: Während Mädchen und Burschen in der Biologie etwa gleiche Leistungen
erbringen, schneiden sie in allen anderen Gebieten, d.s. Erdwissenschaften, Physik und
Umweltwissenschaften deutlich schlechter ab. In den zuletzt genannten Bereichen ergibt
sich ein relativ ausgewogenes Bild. Die Mädchen erreichen in Physik und den
Erdwissenschaften jeweils nur 76% der Burschenergebnisse. In der Biologie zeigen sich nur
wenig Unterschiede in den Leistungen und die Streuung innerhalb der einzelnen Aufgaben ist
mit plus / minus 13% relativ gering. In der Physik dagegen wurde keine einzige Aufgabe von
den Mädchen besser gelöst als von den Burschen, bei den Erdwissenschaften eine einzige
Aufgabe. Die Geschlechterdifferenz im Prozentanteil der korrekten Antworten zu den Items
aus dem Bereich Physik bewegt sich zwischen zehn und zwanzig Prozent. Ähnliche Ergebnisse
wie in der Physik zeigen sich in den wenigen Aufgaben zu den Umweltwissenschaften und bei
den technisch-handwerklichen Aufgaben, wobei in zwei Fällen die Geschlechterdifferenz im
Prozentanteil der korrekten Antworten höher als 30% ist. Da diese beiden Gebiete nur mit
jeweils drei Items vertreten sind wurden sie in den nachfolgenden tabellarischen
Übersichten nicht mehr berücksichtigt.
Prozent korrekt |
|
Biologie |
|
Physik |
|
Erdwissenschaften |
|
Aufgliederung nach Schulsparten und Stoffgebieten
In allen Schulsparten schneiden die Burschen und Mädchen insgesamt
betrachtet in Physik und den Erdwissenschaften deutlich schlechter ab als in der Biologie.
Während sich in der Biologie auch was die einzelnen Schulsparten betrifft, eine
auffallend gleichmäßige Verteilung ergibt, sehen wir in der Physik und den
Erdwissenschaften große Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der Unterschied
zugunsten der Burschen im Stoffgebiet Physik ist am größten in der BS, in der AHS
relativ am geringsten.
Prozent korrekt |
Biologie |
Physik |
Erdwissenschaft |
|
|
|
AHS |
|
|
|
BHS |
|
|
|
BMS |
|
|
|
BS |
|
|
|
Innerhalb der einzelnen Items zum Stoffgebiet Biologie gibt es kaum signifikante
Unterschiede zwischen den Geschlechtern. In Physik finden sich in der AHS vier
Items, wo der Anteil der Mädchen mit richtigen Antworten nur etwa zwei
Drittel des Bubenanteils ausmacht (D02, B06, D04, A01), in der BHS ist dies
bei drei Items der Fall (B01, B05, A01), bei zwei Beispielen ist der Bubenanteil
mehr als doppelt so groß (B06, B09). Ähnliche Beispiele finden sich
auch in der BMS und der BS. In den Erdwissenschaften fällt das Beispiel
B11 in diese Gruppe, bei den technisch-handwerklichen Items die Aufgabe Ö06.
Die Hypothese (vgl. top 1), dass Mädchen benachteiligt sind, wenn Wissen
oder Kenntnisse abgefragt werden, die vermutlich nicht im schulischen Kontext
erworben wurden, scheint damit teilweise bestätigt zu sein (B6, B11, Ö6),
doch muss nach weiteren Gründen für die erheblichen Leistungsdifferenzen
gesucht werden. Analoge Überlegungen gelten auch für die Ergebnisse
der Burschen. Es fällt auf, dass die Buben überall dort schlechter
abschneiden, wo ein Bezug zum eigenen Körper hergestellt wird. Allerdings
sind die Unterschiede bei weitem nicht so groß wie in der Physik oder
den Erdwissenschaften.
Aufgliederung nach Leistungsbereichen
Nur bei den ersten drei der in der Tabelle genannten Kategorien ist die Anzahl
der Items groß genug, dass zumindest Tendenzen abzulesen sind. In allen
Kategorien schneiden die Burschen besser ab als die Mädchen. Differenziert
man nach Biologie und Physik so ergeben sich deutliche Unterschiede zugunsten
der Mädchen in der Biologie und zugunsten der Burschen in Physik. Die
Größenordnung der Unterschiede in den allen drei Kategorien entspricht
den festgestellten Leistungsunterschieden und gibt damit keinerlei Hinweise
auf eine Interpretation dieser Leistungsdifferenzen.
Prozent korrekt |
|
Simple information (10 items) |
|
Complex information (7 items) |
|
Applying scientific principles to develop (7 items) |
|
Die übrigen Kategorien, wie Applying scientific principles to solve etc.
sind nur durch jeweils ein Item vertreten und wurden daher in die Tabelle nicht
aufgenommen.
J. Baumert übersetzt die Kategorien mit:
- Naturwissenschaftliches Alltagswissen
- Erklärung einfacher, alltagsnaher Phänomene der belebten und
unbelebten Natur
- Anwendung elementarer naturwissenschaftlicher Modellvorstellungen
- Verfügung über grundlegende naturwissenschaftliche Fachkenntnisse
Weitere Kategorien werden von ihm nicht erwähnt.
Aufgliederung nach Leistungsbereichen und Schulsparten
Prozent korrekt |
Simple information |
Complex information |
Applying scientific principles to develop |
|
|
|
AHS |
|
|
|
BHS |
|
|
|
BMS |
|
|
|
BS |
|
|
|
In der summenhaften Darstellung ergeben sich bzgl. der einzelnen Kategorien
aufgeschlüsselt nach Schulsparten kaum nennenswerte Unterschiede. Schließt
man für die Kategorie complex information die Biologiebeispiele C21 und
D03 aus, so ergeben sich deutlichere Unterschiede zwischen Burschen und Mädchen
zugunsten der Burschen. Analysiert man die Ergebnisse einzelner Items, dann
finden sich die Kategorien "komplexe Information" oder "Problemlösen"
oder "Anwenden physikalischer Prinzipien" besonders häufig unter
jenen Beispielen, bei denen Mädchen besonders schlecht abschneiden. Dies
könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese Kategorien durchaus eine Rolle
spielen, wenn auch andere Faktoren hinzutreten, d.h. wenn insbesondere Motive
für eine Auseinandersetzung mit komplexen Beispielen fehlen (z.B. weil
der Kontext keine Bedeutung für die betreffenden Schülerinnen hat)
oder auch nur einfache Informationen fehlen, die für die Bearbeitung der
Aufgabe nötig sind.
Zusammenfassende Betrachtung
Im Bereich Allgemeinwissen ist eine differenziertere Betrachtung erforderlich.
Zwar schneiden die Mädchen in allen Schulsparten schlechter ab als die
Burschen, doch scheint in diesem Zusammenhang das Unterrichtsangebot an der
jeweiligen Schule der für die Höhe der Differenz ausschlaggebender
Faktor zu sein. Um diese Hypothese zu bestätigen, wäre eine Aufsplittung
der Daten auf die einzelnen Schultypen nötig. Eine derartige Aufschlüsselung
wurde für im Bereich Allgemeinwissen in der vorliegenden Analyse nicht
vorgenommen. Eine derartige Aufsplittung erscheint deshalb nötig, weil
die Unterschiede in der Dotierung mit Wochenstunden und in den Curricula in
den einzelnen Schultypen sehr groß sind. Derartige Unterschiede finden
sich bereits innerhalb der einzelnen Schultypen der AHS, werden aber besonders
deutlich in der BHS und der BMS. Wie wir aus den Schulstatistiken wissen, besuchen
Mädchen eher Schultypen mit einem geringen Angebot an naturwissenschaftlich-technischen
Fächern. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der in dieser Studie befragten
Mädchen seit der vierten Klasse der Unterstufe oder Hauptschule in diesen
Fächern praktisch keinen Unterricht mehr hat. Die vorliegende Studie ist
ein Indiz dafür, dass das in der Unterstufe oder Hauptschule erworbene
Wissen weitgehend vergessen wird und dass dies vor allem bei den Mädchen
der Fall ist. Wie wir aus anderen Studien wissen, ist es üblicherweise
so, dass Mädchen mit physikalischen oder technisch-handwerklichen Bereichen
weder in ihrer peer-group noch in ihren beruflichen oder privaten Tätigkeiten
in Berührung kommen. Zusammen mit dem sehr reduzierten naturwissenschaftlichen
Unterricht in diesen Bereichen ergeben sich mögliche Erklärungsansätze
für die großen Unterschiede in den Leistungen der Buben und Mädchen.
Ein weiteres Indiz für diese Hypothese ist, dass die Mädchen z.B.
über gute Kenntnisse in der Ernährungslehre verfügen. In diesem
Bereich haben umgekehrt die Buben Defizite, da für sie in diesem Zusammenhang
dieselben Bedingungen gelten wie für die Mädchen im technisch-naturwissenschaftlichen
Bereich.
2.3.2. Physik – Fachwissen
Vorbemerkung
Die Analysen beruhen auf den Ergebnissen, die in G.Haider: Population 3
– Österreich – Bericht an das BMUK 1996 veröffentlicht sind, auf einer von
H.Kühnelt durchgeführten Aufsplittung der Prozent-Korrekt-Werte nach Schultypen und auf
eigenen Berechnungen von Prozent- Korrekt–Mittelwerten aus Tabellen, in denen die
Prozent-Korrekt-Werte für einzelne Items angegeben sind. Der Leistungsvergleich wird
ausschließlich mit Mitteln der deskriptiven Statistik durchgeführt.
Gesamtergebnis
Die Mädchen schneiden im Bereich Fachwissen – Physik
erheblich schlechter ab als die Burschen. Dies zeigt sich sowohl, wenn die Anteile an
korrekten Lösungen verglichen werden als auch, wenn die geschätzten Fähigkeitsscores
betrachtet werden. Der Prozent-Korrekt-Wert der Mädchen beträgt 27%, jener der Burschen
40%. Der durchschnittliche Leistungsfähigkeitswert beträgt bei den Mädchen 408, bei den
Burschen 479.
Über alle Schulsparten hinweg wurden von insgesamt 65 Aufgaben nur
sieben von den Mädchen besser gelöst als von den Burschen, die Differenz zwischen den
Geschlechtern liegt bei diesen Aufgaben immer unter 10%. Bei mehr als der Hälfte der
Aufgaben ist die Differenz zwischen den Geschlechtern zugunsten der Burschen größer als
10%, bei etwa einem Viertel der Aufgaben größer als 30%.
Aufgliederung nach Schulsparten
In beiden Schulsparten schneiden die männlichen Schüler deutlich
besser ab als die Mädchen. Vom Leistungsniveau der Burschen aus betrachtet
liegen die Mädchen der AHS in ihrem Leistungsniveau etwa 17% unter jenem
ihrer Mitschüler, die Mädchen der BHS etwa 44% darunter.
- Unter den 25% Besten sind 53% der BHS-Maturanten und 32% der AHS-Maturanten, aber nur
11% der AHS-Maturantinnen und 4% der BHS-Maturantinnen.
- Unter jenem Viertel, das am schlechtesten abgeschnitten hat, waren nur 13% AHS- und 12%
BHS- Schüler, aber 31% AHS- und 50% BHS- Schülerinnen.
- In der AHS lagen 93% und in der BHS 84% der Maturantinnen und Maturanten insgesamt unter
der 50% Marke an richtigen Lösungen. Nach Geschlecht aufgeschlüsselt lagen in der AHS
89% aller getesteten Burschen unter der 50% Marke und 96% der Mädchen, in der BHS 69% der
Burschen und 99% der Mädchen.
Nicht berücksichtigt wird in der obigen Übersicht, dass im
österreichischen Schulsystem AHS und insbesondere BHS unterschiedlichste Schultypen
beinhalten. Diese Schultypen unterscheiden sich nicht nur in Hinblick auf das
Fächerangebot sondern auch in ihrem Mädchenanteil.
Vergleicht man die Prozent-Korrekt-Werte innerhalb von Schultypen, bei denen
Mädchen und Buben nach demselben Lehrplan in Physik unterrichtet werden,
so ändert sich das Leistungsbild vor allem in der BHS. Die Leistungen der
Mädchen im Gymnasium und an der HAK liegen im Mittel nur etwas mehr als
ein Zehntel unter jener der männlichen Gymnasial- und HAK-Maturanten.
Prozent korrekt |
|
Gymnasium |
|
HAK |
|
Eine weitere Aufschlüsselungen der Daten nach Schultypen mit
vergleichbaren Curricula ergibt derart niedrige Probandenzahlen, dass keine statistisch
sinnvollen Aussagen mehr möglich sind.
Aufgliederung nach Stoffgebieten
Auch hier zeigt sich, dass die Mädchen in allen Stoffgebieten
schwächere Leistungen erbringen. Am deutlichsten sind die Unterschiede in der
Wärmelehre, gefolgt von Mechanik und Elektrizitätslehre. Geringer sind sie in der
Wellenlehre und in der Modernen Physik, wo die Mädchen etwa drei Viertel der Leistungen
der Burschen erzielen.
Prozent korrekt |
|
Mechanik |
|
Elektrizität und Magnetismus |
|
Wärme |
|
Wellenlehre |
|
Moderne Physik |
|
(Moderne Physik: Teilchenphysik, Quantenmechanik, Astrophysik, Relativitätstheorie)
Aufgliederung nach Schulsparten und Stoffgebieten
In allen Gebieten sind die Leistungsdifferenzen zwischen Burschen
und Mädchen in der BHS deutlich größer als in der AHS. In der BHS erreichen die
Mädchen in allen Bereichen nur etwa zwischen 50% und 60% der Leistungen der Burschen, am
größten sind hier die Unterschiede in der Elektrizitätslehre, relativ am geringsten in
der Modernen Physik.
In der AHS sind die Unterschiede wesentlich geringer: am größten sind
sie in der Wärmelehre, wo die Mädchen nur 74% der Leistungen der Burschen
erreichen, am geringsten in der Kategorie Elektrizitätslehre – Magnetismus
und in der Modernen Physik, wo sich die Leistungen der Mädchen kaum von
jener der Burschen unterscheidet.
Prozent korrekt |
Mechanik |
E –Lehre |
Wärme |
Wellen |
Mod. Ph |
|
|
|
|
|
AHS |
|
|
|
|
|
BHS |
|
|
|
|
|
Aufgliederung nach Leistungsbereichen (Kompetenzniveaus)
Vorauszuschicken ist, dass bei genauerer Betrachtung der jeweiligen
Items keine eindeutige Zuordnung zu den einzelnen Kategorien erfolgen kann. Die
nachfolgende Übersicht wurde daher zwar der Vollständigkeit halber angeführt, ihre
Aussagekraft ist allerdings nur mit Vorbehalten zu bewerten. Der Kategorie "Designing
investigations" wurden nur drei Items zugezählt, sie wird an dieser Stelle nur der
Vollständigkeit halber angeführt. Der relative Unterschied zwischen Burschen und
Mädchen ist am größten in der Kategorie "Applying scientific principles to develop
explanations", doch ist in allen Fällen die Streuung zwischen den einzelnen Items so
groß, dass in diesem Zusammenhang keine relevanten Aussagen gemacht werden können.
Prozent korrekt |
|
Simple information |
|
Complex information |
|
Applying scientific principles to develop explanations |
|
Applying scientific principles to solve quantitative problems |
|
Interpreting data |
|
Designing investigations |
|
Aufgliederung nach Leistungsbereichen und Schulsparten
In der BHS ist in allen Leistungsbereichen die Differenz zwischen
den Mädchen und Burschenleistungen größer als in der AHS. In der AHS ist das
Leistungsverhältnis zwischen den Geschlechtern nur in der Kategorie 3 bemerkenswert, in
der Kategorie 2 besteht nur ein geringfügiger Unterschied. Auch in der BHS sind die
relativen Unterschiede in der Kategorie 2 am geringsten, besonders deutlich aber in den
Kategorien 3, 4 und 5. In beiden Schulsparten schneiden die Mädchen bei Kategorie 3 am
schwächsten ab, am besten bei Kategorie 2. Ein Zusammenhang mit mathematischen Routinen
(Kategorien 4 und 5) bewirkt in der AHS, dass Leistungsdifferenzen geringer ausfallen, in
der BHS ist dies nicht der Fall.
Prozent korrekt |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
|
|
|
|
|
|
AHS |
|
|
|
|
|
|
BHS |
|
|
|
|
|
|
- Simple information
- Complex information
- Applying scientific principles to develop explanations
- Applying scientific principles to solve quantitative problems
- Interpreting data
- Designing investigations
Analyse der Ergebnisse zu einzelnen Items
Analysiert man die Ergebnisse einzelner Aufgaben, so ergibt sich ein
sehr komplexes Bild. Die nachfolgende Auswahl beschränkt sich auf Beispielen, bei denen
geschlechtsspezifische Unterschiede in die eine oder andere Richtung besonders ausgeprägt
sind.
Aufgaben, bei denen Mädchen relativ zu den Leistungen der Burschen gut
abschneiden:
- Trotz der schlechten Allgemeinergebnisse haben Mädchen der AHS bei einzelnen Beispielen
deutlich besser abgeschnitten als Buben der HTL. Dazu zählen die Items E02, F07, H02; bei
anderen Items, wie etwa H03, F06 und G09 gleich gut.
- Aufgabe E02 wurde von 78% der Gymnasialschülerinnen richtig beantwortet, aber nur von
66% der HTL-Schüler. Bei dieser Aufgabe handelt es sich um ein Gebiet, das bei Mädchen
auf großes Interesse trifft: Aus der Sicht der Mädchen ist Wissen um Radioaktivität
sowohl für ein Verständnis physikalischer Zusammenhänge von Bedeutung, hat aber auch
lebenspraktische Relevanz. Bedeutende Frauen haben auf diesem Gebiet gearbeitet.
Radioaktivität ist Lehrstoff der achten Klasse und noch gut in Erinnerung. Dort, wo dies
nicht der Fall ist, wie in der HAK schneiden die Mädchen (mit 40%) bei dieser Aufgabe
auch deutlich schlechter ab als die HAK-Schüler (59%).
- 65% der Gymnasialschülerinnen, aber nur 53% ihrer männlichen Kollegen
und 50% der HTL Schüler haben Item F07 richtig gelöst. Dort, wo
der Photoeffekt nicht Inhalt des Lehrstoffs ist, wie dies in der HAK der Fall
ist, schneiden wieder die Burschen besser ab. Die Voraussetzungen sind hier
ähnlich wie bei Item E02, allerdings ist dieser Aufgabe ohne lebenspraktische
Bedeutung. Der im Vergleich zu E02 geringere Unterschied der korrekten Antworten
seitens der Mädchen mag darauf zurückzuführen sein.
- Aufgaben, bei denen Mädchen insgesamt relativ gut abschneiden, sind z.T. sehr abstrakte
Fragen (H06, F07, G10), von denen jedoch angenommen werden kann, dass sie im
herkömmlichen Schulunterricht in dieser Form im Verlaufe der achten Klasse behandelt
werden.
- Bei allen SchülerInnen, insbesondere aber bei Mädchen fällt auf, dass elementare
Grundkenntnisse fehlen (F05). Die Information fehlt den Mädchen dort, wo es gilt,
komplexere Information zu verstehen bzw. Phänomene zu erklären oder physikalische
Gesetze anzuwenden. Zu vermuten ist, dass diese Grundkenntnisse entweder im
Oberstufenunterricht überhaupt nicht thematisiert wurden oder Jahre vor dem Test
Unterrichtsthema waren, ohne dass darauf später wieder Bezug genommen wurde.
- Die aus der Literatur bekannten Interessensfelder spiegeln sich auch in den Ergebnissen
der TIMS-Studie. Bei Aufgaben, in denen es um die Schaltung von Stromkreisen geht,
schneiden die Mädchen deutlich schlechter ab als die Burschen (auch innerhalb des
gleichen Schultyps), bei Aufgaben zur geometrischen Optik (G05) die Mädchen deutlich
besser, allerdings nur dann, wenn die Fragestellung mit Hilfe des im Unterricht erworbenen
Wissens beantwortet werden kann.
- Im Gymnasium erbringen die Mädchen deutlich bessere Leistungen bei
jenen Inhalten, die der so genannten "Modernen Physik" zuzuzählen
sind, aber auch (und das mag viele überraschen) bei Fragen zum Elektromagnetismus.
Eine Frage zum elektromagnetischen Spektrum (F13) wird von 69% der Mädchen
aber nur von 47% der Burschen richtig beantwortet. Die Frage nach dem elektromagnetischem
Spektrum bestätigt in mehrfacher Hinsicht die in Top 1 aufgestellten
Hypothesen: Physikalische Inhalte werden in einem sinnvollen Gesamtzusammenhang
betrachtet, der zu einem besseren Verständnis der Natur aber auch zu
einer besseren Alltagsbewältigung führt; der entsprechende Inhalt
entspricht dem Lehrplan der achten Klasse, d.h. die zeitliche Distanz zwischen
Unterricht und Test ist relativ gering.
- 32% der Maturantinnen des Gymnasiums aber nur 7% ihrer männlichen Mitschüler
beantworteten die Frage G1 korrekt. Ähnliche Unterschiede (wenn auch geringer
ausgeprägt) finden sich auch bei anderen Fragen zur Lorentzkraft. Hier dürfte sowohl der
Umstand, dass dieser Inhalt in der achten Klasse unterrichtet wird, ein Rolle spielen
(Lorentzkräfte sind eine beliebte Maturafrage), aber es darf auch vermutet werden, dass
der Unterricht zu diesem Thema im allgemeinen so erfolgt, dass die einzelnen
Gedankenschritte für die Schülerinnen gut verständlich sind, dass die Unterrichtshilfen
adäquat sind und dass der Unterricht durch Experimente unterstützt wird. Diese
Erklärungshypothese wäre durch entsprechende Studien zu verifizieren.
- Item F13 wurde von den Maturantinnen des Gymnasiums (69%) deutlich besser gelöst als
von den männlichen Kollegen (47%). Für das bessere Abschneiden kann in diesem Fall keine
der oben angeführten Gründe angeführt werden. Dieses Phänomen zeigt sich bei einigen
Aufgaben und es kann angenommen werden, dass die Mädchen einfach durch logisches
Schließen oder ein besseres mathematisches Verständnis (z.B. beim Lesen von Graphen im
Beispiel H3) in manchen Fällen zu besseren Ergebnissen kommen als ihre Kollegen.
Derartige Beispiele findet man auch bei HAK-Schülerinnen, die z.B. Aufgabe H3 deutlich
besser lösten als ihre männlichen Kollegen aus der HAK (32% und 6%).
- Die Items H15 und H16 wurden insgesamt nur von wenigen SchülerInnen
beantwortet. Dort wo die betreffenden Inhalte Teil des Lehrplans sind, schneiden
die Mädchen allerdings besser ab als die Burschen. Im Gymnasium wurden
beide Fragen von den Mädchen deutlich besser beantwortet als von den
Burschen (15% und 5%; 10% und 0%). Wieder handelt es sich um Lehrstoff der
Maturaklasse und um Aufgaben, die mathematisches Verständnis verlangen.
Aufgaben, bei denen Burschen im Vergleich gut abschneiden
- Auch innerhalb derselben Schultype, also unter der Voraussetzung das Burschen und
Mädchen denselben Unterricht haben, beantworten mehr Burschen als Mädchen die Fragen
korrekt und es sind auch die Unterschiede zugunsten der Burschen im Mittel größer.
- Wegen der einheitlichen Curricula sind insbesondere die Leistungsunterschiede
im Gymnasium interessant. In diesem Schultyp ist die Anzahl der korrekten
Antworten bei den Burschen im Mittel um 5% höher als bei den Mädchen,
in acht Fällen (Items E03, F01, G02, G16, G19, H04, H11) ist der Unterschied
größer als 20% (bei den Mädchen ist dies nur zweimal der
Fall). Die genannten Items stammen aus völlig unterschiedlichen Wissensbereichen.
Was die Gebiete betrifft, ist nur die Mechanik stärker vertreten (vier
Items aus der Mechanik, Wellenoptik, Induktion, Wärmelehre). Hinsichtlich
der Performancekategorie zeigt sich, dass es sich bei jenen Beispielen,
in denen die Unterschiede besonders deutlich sind, um Aufgaben vom Typ "Applying
scientific principles" handelt. In allen Fällen liegt der entsprechende
Unterricht lt. Lehrplan ein bis zwei Jahre zurück. Die Ergebnisse weisen
darauf hin, dass Burschen eher als Mädchen über ein gesichertes
Wissensnetz verfügen, dessen Grundlagen nur z.T. im Unterricht erworben
wurden, aber durch handwerkliche Tätigkeiten, Lektüre und Diskussionen
in der peer-group entsprechend vernetzt und abgesichert sind. Mädchen
haben dagegen Defizite bereits im Bereich einfacher Information, das in
der Schule erworbene Wissen wird nicht vernetzt und daher vergessen. Die
Hypothese, dass die Unterschiede dort, wo es um die Anwendung dieser Kenntnisse
geht, besonders groß sein müssen, scheint damit durchaus plausibel.
Zusammenfassende Betrachtung
Bemerkenswert sind die großen Unterschiede in den Testergebnissen
zwischen Maturantinnen und Maturanten dann, wenn man Wissen und Kenntnisse der
MaturantInnen bezogen auf die Gesamtbevölkerung im Auge hat.
Die großen Unterschiede innerhalb der Schulsparten sind in der Hauptsache
durch die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen dieser Schulen und die sich
daran orientierenden Curricula gegeben. Bei Schülerinnen und Schülern,
die nach demselben Curriculum unterrichtet werden, sind die Leistungsunterschiede
über alle Items gemittelt geringer. Die Mädchen liegen unter diesen
Voraussetzungen in ihren Leistungen nur etwa 10% unter jener der Burschen.
Große Unterschiede lassen sich dennoch auch hier ablesen, wenn man einzelne
Items betrachtet. Um derartige Differenzen zu erklären, wären genauere
Analysen nötig. Fallstudien, die es ermöglichen, Lernschwierigkeiten
im Detail aufzuzeigen und geschlechtsspezifische Stärken und Schwächen
der Schülerinnen und Schüler zu erkennen. Erst auf Grundlage derartiger
Studien wäre es möglich, entsprechende Unterrichtsrichtlinien zu
formulieren und geeignete Evaluationsformen zu entwickeln.
Die Wahlfreiheit der Mädchen und das Angebot an Schultypen führen
dazu, dass Mädchen vermehrt Schulen besuchen, in denen der naturwissenschaftliche
Unterricht, insbesondere der Physikunterricht nur einen sehr geringen Stellenwert
hat. Dies führt dazu, dass Frauen im Bevölkerungsschnitt in diesen
Gebieten vermutlich wenig gebildet sind. Dazu gibt es Studien u.a. in Deutschland.
In Österreich fehlen derartige Untersuchungen. Die vorliegenden Untersuchungen
zeigen, dass Bildungsunterschiede, die bereits in der Schule vorhanden sind,
sich im Verlaufe des Lebens verstärken.
2.4. Erklärungsansätze
Wie lassen sich die erheblichen Differenzen
in den Leistungen der Mädchen und Burschen erklären? Inwiefern bestätigen die
Ergebnisse die in Top 1 aufgestellten Hypothesen?
Hypothese 1:
Bei Prüfungen und Tests über Faktenwissen, das über große Zeiträume
reicht, sind Mädchen benachteiligt. (Das gilt auch für die Lösung von Problemen,
die auf derartigen Kenntnissen aufbauen.)
Sowohl die Analyse der Gesamtergebnisse als auch die Analyse der Ergebnisse
einzelner Items zeigen, dass Mädchen zwar vergleichsweise schwierige Aufgaben
lösen können, wenn diese Aufgaben dem aktuellen Lehrstoff nahe kommen,
bei Aufgaben, die mit Lehrstoff, der in der zeitlichen Distanz weiter zurückliegt,
aber schlecht abschneiden. Mögliche Erklärungsansätze für
das schlechtere Abschneiden bei weiter zurückliegenden Inhalten können
sein, dass diese Inhalte relativ bald vergessen werden (weil sie in keinerlei
Zusammenhang weder in noch außerhalb der Schule für die Mädchen
von Bedeutung sind) und/oder dass im Unterrichtsverlauf kein für die Mädchen
interessanter Kontext erkennbar war.
Hypothese 2:
Mädchen sind durch ein Aufgabenformat, das von dem in der Schuleüblicherweise
verwendeten abweicht, benachteiligt.
Diese Hypothese wird durch die vorliegenden Ergebnisse nicht gestützt.
Genauere Studien, die analysieren, wie Mädchen und Burschen an die Lösung der einzelnen
Aufgaben herangehen, könnten besser als die vorliegenden Statistiken darüber Auskunft
geben, inwiefern Zeitvorgaben und Aufgabenformat die Qualität der Ergebnisse beeinflussen
und ob es hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt.
Hypothese 3:
Berücksichtigt man die Gesamtpopulation und die Mädchenanteile in dieser
Population sind Mädchen durch mathematische Aufgaben benachteiligt, weil sie jene Schultypen,
an denen derartige Probleme eingeübt werden, weniger oder nicht besuchen.
Diese Hypothese lässt sich kaum belegen, da Mädchen, die Schultypen
mit wenig Mathematikunterricht besuchen auch nur wenig Physikunterricht haben.
Grundsätzlich scheint sich zu zeigen, dass Aufgaben, die mathematisches
Verständnis erfordern, für Mädchen kein größeres
Hindernis darstellen als für Burschen. Betrachtet man die Besten einer
Schülerpopulation so scheint sogar das Gegenteil der Fall zu sein. Voraussetzung
ist natürlich, dass die Mädchen die zugrunde liegende Physik beherrschen.
Hypothese 4:
Mädchen sind benachteiligt, wenn die Lösung einer Aufgabe ein gutes räumliches
Vorstellungsvermögen verlangt.
Das außergewöhnlich schlechte Abschneiden der Mädchen bei einzelnen
Aufgaben, insbesondere die Probleme, die Mädchen bei der Erklärung
der Sonnenfinsternis (Item B11) haben, scheinen diese Hypothese zu bestätigen.
Betrachtet man die Aufgaben insgesamt, so lässt sich dieser Eindruck allerdings
nicht bestätigen. Die Lernschwierigkeiten im Verständnis der Sonnenfinsternis
(und ähnlicher Himmelserscheinungen) sind aus der Literatur bekannt. Die
Erfassung der Unterschiede zwischen Mädchen und Burschen bei der Lösung
derartiger Aufgaben würde eine eigene Untersuchung erforderlich machen.
Insgesamt betrachtet wäre eine genauere Studie nötig, um Hypothese
4 zu prüfen.
Hypothese 5:
Mädchen sind benachteiligt, wenn es um Kontexte geht, die nicht im Sinne von
Orientierungswissen für die Mädchen von Bedeutung sind.
Diese in der Literatur wohlbelegte Hypothese wurde durch die Ergebnisse bestätigt
(vgl. auch Hypothese 1). Aufgaben werden dann von den Mädchen gut gelöst,
wenn ein Bezug zum eigenen Leben hergestellt werden kann (vgl. Allgemeinwissen
Biologie) oder wenn sie zu einem besseren Verständnis der Welt beitragen
(Beispiele aus der Kernphysik). Der Kontext ist für Mädchen von größerer
Bedeutung als für Burschen. Ein Kontext, der Sinn macht, ist nicht nur
für die Motivation von Bedeutung, sondern auch für das Langzeitgedächtnis.
Sinnvoller Kontext ermöglicht Kommunikation außerhalb der Schule
und ermöglicht, vorhandenes Wissen zu vernetzen, Anwendungsbezüge
herzustellen etc. Zu vermuten ist, dass nur wenige Beispiele aus dem TIMSS-Test
einen Kontext-Bezug haben, den Mädchen als sinnvoll empfinden.
Hypothese 6:
Mädchen sind benachteiligt, wenn Wissen oder Kenntnisse verlangt werden, die nicht im
schulischen Kontext erworben und/oder vertieft wurden.
Auch diese Hypothese wird durch die vorliegenden Analysen gestützt.
Zu untersuchen wäre auch ein weiterer Erklärungsansatz: Studien scheinen
zu belegen, dass Mädchen an Aufgaben anders herangehen als Burschen. Mädchen
neigen dazu, die Gesamtheit der Aufgabe genau erfassen zu wollen, dann erst
Lösungswege zu überlegen und erst wenn die Lösung klar ist,
das Ergebnis "öffentlich" zu formulieren. Voraussetzung dafür
ist: einerseits, genügend Zeit zur Verfügung zu haben, andererseits
eine klare Aufgabenstellung und eindeutige Formulierungen der Aufgaben unter
Ausschließung von Missverständnissen. Wie Helmut Kühnelt in
seinen Analysen zeigt und auch erste Studien aus Deutschland belegen, sind
genau diese Voraussetzungen bei der TIMS-Studie vielfach nicht gegeben. Erste
Fallstudien scheinen zu belegen, dass diese Faktoren dazu führen, dass
Mädchen bei der Lösung der Aufgaben größere Schwierigkeiten
als Burschen haben. Für weitere Evaluationen ist zu fordern, dass bei
der Verfassung der Aufgaben mit größerer Sorgfalt vorgegangen wird.
Auch die Hypothese, dass auch Buben durch den Schultyp (fehlende
Mathematikkenntnisse, wenig Physikunterricht) benachteiligt sein können, wird bestätigt.
Die Unterschiede zwischen den Maturanten des Gymnasiums und der HTL sind ein Indiz dafür.
Inwiefern sich auch was den Kontext betrifft Benachteiligungen für die Burschen ergeben,
wäre noch zu untersuchen. Das bessere Abschneiden der Burschen in allen Schultypen
spricht allerdings dafür, dass derartige Einflüsse zwar in Einzelfällen eine Rolle
spielen mögen, über größere Schülerpopulationen gerechnet aber eine wesentlich
geringere Rolle spielen als dies bei den Mädchen der Fall ist.
2.5. Schlussfolgerungen
und Konsequenzen
In den Naturwissenschaften, insbesondere in
der Physik ist das in der Schule erworbene Wissen für Mädchen von größerer Bedeutung
als für Buben. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass
- Mädchen in der Unterstufe eine gute Basis an Kenntnissen, Fertigkeiten etc. erhalten.
Gesicherte Grundkenntnisse sind in den Naturwissenschaften unbedingte Voraussetzung für
die Lösung von Problemen, insbesondere dann wenn Kenntnisse nicht – wie dies bei den
Mädchen vielfach der Fall ist - durch zu Hause erworbenes praktisches Wissen und
geeignete Kommunikation gesichert und vertieft werden.
- Nicht nur aus Gründen der Motivation soll im Unterricht der Alltagskontext
betont werden. Gerade für Mädchen ist es notwendig, dass in der
Schule erworbene Wissen im Alltagskontext zu vernetzen, abzusichern und
zu vertiefen. Mädchen sind in dieser Hinsicht durch ihre Sozialisation
benachteiligt, insbesondere fehlt im handwerklich-technischen Bereich die
entsprechende peer-group und häufig auch die Stützung durch die
Familie. Hier muss die Schule soweit dies möglich ist ausgleichen.
- Es muss angestrebt werden, dass auch in jenen Schultypen der BMS und der
BHS, die keinen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt haben, jenes naturwissenschaftliche
Allgemeinwissen zu vermitteln ist, das MaturantInnen bzw. AkademikerInnen
in ihren Berufsfeldern aber auch für ihre Aufgaben als Staatsbürger
benötigen.
Da über die Gesamtbevölkerung gemittelt Mädchen weniger
technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung haben, ist besonders darauf zu achten, dass
die in der Schule zu erlernenden Inhalte und zu erwerbenden Kenntnisse besonders
sorgfältig ausgewählt werden. Die TIMS-Studie zeigt, dass den Mädchen noch stärker als
den Burschen die Einsicht in Gesamtzusammenhänge fehlt und dass es sich bei jenen
Kenntnissen, die die Mädchen aus dem Unterricht wissen, häufig um belanglose Details
handelt. Ein derartiger Unterricht führt nicht nur dazu, dass den Schülerinnen
elementare Kenntnisse fehlen, sondern auch dazu, dass sich die gesellschaftsbedingte
Distanz der Mädchen zu den "hard sciences" weiter vergrößert.
2.6. Naturwissenschaftlicher Unterricht für Mädchen und Buben
- Fachdidaktische Anregungen für einen geschlechtssensiblen Unterricht
Die Distanz der Frauen zu Naturwissenschaft und Technik ist vielfach belegt.
Sie äußert sich überall dort, wo die Mädchen wählen
können, in der Wahl des Schultyps, des Berufs, des Studiums. Was die Ursachen
betrifft, gibt es dazu umfangreiche Forschungsarbeiten. Konzentriert man sich
auf das Schulgeschehen, so scheint das fehlende Selbstbewusstsein der Mädchen
gegenüber diesen Bereichen eine wesentliche Rolle zu spielen, verstärkt
durch den Umstand, dass Mädchen bereits sehr früh Physik und Technik
als männlich identifizieren, was wieder dazu führt, dass nur wenige
Mädchen sich diesen Gebieten widmen. Es gibt eine Reihe von Empfehlungen
und Maßnahmen, wie dieser Zirkel langfristig zu durchbrechen ist. Der
Schule fällt dabei eine wichtige Rolle zu.
These 1:
Der Unterricht in der Schule hat im Zusammenhang beim Erwerb naturwissenschaftlicher Kenntnisse und
Grundfertigkeiten für Mädchen eine höhere Bedeutung als für Burschen.
Die im Unterricht erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten sind für
Mädchen und Burschen von Bedeutung. Die Ergebnisse der Analyse der TIMS-Studie führt zur
Hypothese, dass im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich bzw. in der Physik für
Mädchen bzw. Frauen Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten, die in der Schule erworben
wurden von besonders großer Bedeutung sind. Die Schule ist jene Einrichtung, der die
Aufgabe zufällt, gesellschaftsbedingte Defizite auszugleichen – auch die
sozialisationsbedingte Distanz der Frauen zu Physik und Technik, genauso wie umgekehrt
z.B. kommunikative Defizite der Buben - und vorhandene Stärken und entdecken und zu
fördern. Schule kann den Mädchen in diesen Bereichen neue Lebensfelder eröffnen, sei es
im Berufsleben, im privaten Bereich oder als Staatsbürger.
These 2:
Mädchen stellen an die Qualität naturwissenschaftlichen
Unterricht im physikalisch-technischen Bereich höhere Ansprüche als Buben.
Das schlechte Abschneiden der Buben und Mädchen bei der TIMS-Studie gibt
uns – unabhängig von der berechtigten Kritik an der Studie selbst
– Hinweise darauf, wo die Stärken und Schwächen unseres Schulsystems
im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich liegen. Das schlechte Abschneiden
der Mädchen sowohl im Allgemeinwissen als auch im Fachwissen zeigt Asymmetrien
im Bildungssystem auf. Wenn Allgemeinbildung tatsächlich als Bildung
für "alle" gemeint ist, dann gilt es diese Asymmetrien aufzuspüren
und nachzukorrigieren. Das schlechte Abschneiden der Mädchen und Buben
weist aber auch auf Qualitätsmängel des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichts hin. Die Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und
Buben, die in koedukativen Klassen nach demselben Lehrplan unterrichtet wurden,
sind Indiz dafür, dass es Asymmetrien im Unterricht selbst gibt. Naturwissenschaftlicher
Unterricht im mathematisch-physikalischen Bereich ist so angelegt, dass er
eher den Interessen und Stärken der Buben entspricht, diese dadurch zugleich
fördert aber auch den Blick einengt. Betrachtet man nun auch die individuellen
Bandbreiten an Interessen und Begabungen, so wird deutlich, dass die Qualität
naturwissenschaftlichen Unterrichts am Unterrichtserfolg bei Mädchen und
Buben zu messen ist.
Unterrichtserfolg wird nachfolgend unter zwei Dimensionen betrachtet: den Interessen
einerseits und dem engen Wissensprofil, wie es in der TIMS-Studie abgefragt
wird andererseits. Interesse ist eine der Voraussetzungen für die Bereitschaft
zu lernen, insbesondere für die Bereitschaft auch nach der Schulzeit sich
einem Wissensgebiet zu widmen. Das in der Schule erworbene Grundwissen ist
eine der Voraussetzungen, dass dieses Lernen auch Erfolg hat. Gerade Mädchen
haben im naturwissenschaftlich-technischen Bereich ein sehr gering ausgeprägtes
Selbstbewusstsein. Lernerfolge, das Gefühl etwas verstanden zu haben,
das Gelernte anwenden zu können, als Expertin an Gesprächen teilnehmen
zu können, heben das Selbstbewusstsein der Mädchen und fördern
damit wieder Interesse und Bereitschaft, sich mit diesen Bereichen auseinanderzusetzen.
Einer Äußerung von Wagenschein zufolge, ist Unterricht, der Mädchen
anspricht, auch für Buben geeignet und interessant, das Umgekehrte, meint
Wagenschein, gelte nicht. Diese Aussage lässt sich auch so interpretieren,
dass Mädchen höhere Ansprüche an die Qualität von Unterricht
stellen, was Inhalte, Methodik und Didaktik betrifft. "Mädchengerechter"
Unterricht spricht nicht nur jene Bubengruppen an, die wenig an Technik interessiert
sind, sondern trägt auch dazu bei, dass sich für an Technik und Physik
interessierte Buben das Spektrum der Betrachtungsweisen erweitert. In diesem
Sinne sind die Buben in den folgenden Überlegungen immer mitgedacht, auch
dann wenn nur von Mädchen die Rede ist.
Richtlinien für eine Unterrichtsgestaltung, die den Stärken und Interessen der Mädchen
und Burschen entspricht.
Die Unterrichtsforschung hat eine Reihe von Faktoren gefunden, die dazu beitragen,
das Selbstbewusstsein der Mädchen gegenüber Physik und Technik zu
erhöhen und ihr Interesse positiv zu beeinflussen. Dazu zählen:
- Konstruktivistische Lernansätze: von den Vorstellungen der SchülerInnen ausgehend
werden Fragen formuliert, Widersprüche aufgedeckt, Hypothesen entwickelt und geprüft,
die Gelegenheit gegeben "selbst auf etwas draufzukommen".
- Anknüpfen an die Vorerfahrungen und Interessen von Buben und Mädchen
- Die Einbettung des Unterrichts in Kontexte, der für Buben und Mädchen von Bedeutung
ist.
- Fächerübergreifende Ansätze, in denen auch das in nicht-naturwissenschaftlichen
Fächern erworbene Wissen eine zentrale Rolle spielt und Fragen behandelt werden, die auch
in allgemein humanen, sozialen oder historischen Kontexten von Bedeutung sind.
- Ein behutsamer Übergang von der Alltags- zur Fachsprache. Zu früh verwendetes und nur
teilweises verstandenes Fachvokabular kann Verstehen behindern, führt aber auch dazu,
dass Mädchen sich von der Diskussion ausgeschlossen fühlen.
- Wissen schaffen, das auch außerhalb der Schule von Bedeutung ist und Kommunikation
ermöglicht.
- Die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen. Dazu zählen die Vermeidung von zu häufigem
Frontalunterricht, der durch das unterschiedliche Sozialverhalten von Mädchen und Buben
eindeutig Buben bevorzugt sowie ein großzügiger Zeitrahmen und die Möglichkeit des
Arbeitens in monogeschlechtlichen Gruppen.
Prüfungskultur,
Evaluation und Selbstevaluation
Das geringe Selbstbewusstsein der Mädchen im Fach Physik kann nicht dadurch
aufgelöst werden, dass die Noten angehoben werden. Nicht die Noten sind
der zentrale Ansatz, sondern die tatsächlich erbrachten Leistungen, das
Wissen darüber, lebensbedeutsame Zusammenhänge erkannt und verstanden
zu haben. Evaluation muss den Mädchen Gelegenheit geben, Leistungen zu
erbringen und diese Leistungen sichtbar werden zu lassen. Eine Reihe von Studien
zu alternativen Beurteilungsformen zeigen, dass Stärken der Mädchen
in alternativen Beurteilungsmethoden zum Tragen kommen und sie dann durchaus
ebenso gute Leistungen erbringen wie die Burschen (vgl. Labudde, NiU Physik,
Heft 49):
- Während die Mädchen im Haupttest von TIMSS wesentlich schlechter
abgeschnitten haben als Burschen, erreichen sie im so genannten TIMSS-Performance
- Test gleich gute Resultate wie die Burschen. In diesem Test müssen
Jugendliche der 7. Und 8. Klassen einfache physikalische Versuche durchführen.
- Im Bundesstaat Victoria in Australien führte 1991 ein neuer Physiklehrplan
zu verschiedenen Veränderungen. So wird vorgeschrieben, dass die Hälfte
eines Zeugnisses auf zwei Teilleistungen basieren muss: zum einen Schülerexperimente
und zum anderen ein größeres Physikprojekt. Gerade bei diesen
beiden Prüfungsformen schneiden Mädchen im Durchschnitt gleich
gut oder sogar besser ab als Burschen.
- Beim "Internationalen Baccalaureate" müssen die Jugendlichen eine
Abiturarbeit verfassen. Sie können Fach und Thema frei wählen. Junge Frauen und Männer
zeigen dabei gleich gute Leistungen.
- Bei den in Österreich als Teilmatura gewerteten Fachbereichsarbeiten ist der Anteil an
Schülerinnen, die eine Fachbereichsarbeit aus Physik wählen, höher als der Anteil an
Schülerinnen, die Physik als mündliches Maturafach wählen. Die Österreichische
Physikalische Gesellschaft prämiert die besten Arbeiten. Es zeigt sich, dass nicht nur
was die Anzahl sondern auch was die Qualität der Arbeiten betrifft, die Arbeiten der
Schülerinnen jenen der Schüler gleichwertig sind.
In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, Erfahrungen mit alternativen Beurteilungsformen,
wie sie auch in Österreich an einigen Schulen bereits durchaus üblich
sind, in Hinblick auf ihren Stellenwert für geschlechtssensiblen Unterricht
zu dokumentieren.
Bei der Bearbeitung von Tests haben in Deutschland durchgeführte
Fallstudien gezeigt, dass Mädchen und Burschen die Testfragen in unterschiedlicher Weise
bearbeiten. So schreibt V.Hagemeister in seinem Artikel "Was wurde bei TIMSS
erhoben":
Die Mädchen sind jedoch häufiger als die Jungen an Ungenauigkeiten in
der Aufgabenstellung hängen geblieben und die Mädchen waren weniger bereit, Halbwissen
einzubringen, um Aufgaben zu lösen.
Aus den bisherigen Überlegungen und Analysen ergeben sich für
externe Testverfahren folgende Richtlinien:
- Rahmenbedingungen, die Mädchen und Jungen genügend Zeit für die Lösung der Aufgaben
lassen, wo die Fragen ohne äußeren Druck bearbeitet werden können.
- Eine stärkere Betonung offener Fragestellungen, wo auch unterschiedliche
Lösungsansätze zum Ergebnis führen
- Sinnvoller Kontext, der für Schülerinnen und Schüler die Lösung der Aufgabe
interessant macht.
- Klar formulierte Aufgabenstellungen
- Wenn Anwendungsaufgaben gestellt werden, sollte deutlich sein, über welches Grundwissen
die Schülerinnen und Schüler für die Lösung verfügen müssen
- Im Bereich des Allgemeinwissens sollten was die Inhalte betrifft vermehrt auch die
Stärken der Mädchen, insbesondere im Bereich biologischer Fragestellungen miteinbezogen
werden.
