Das Physikwissen österreichischer Maturantinnen
Eine Analyse der Ergebnisse der TIMS-Studie aus geschlechtsspezifischer Perspektive
Helga Stadler


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Kapitel 5

Geschlechtssensibler Unterricht

Vorschläge für Konsequenzen und Maßnahmen auf der Basis der nationalen und internationalen Analysen für den Bereich Naturwissenschaft

5. 1. Einleitung
5. 2. Maßnahmen, die das Bildungssystem Schule als solches betreffen
5. 3. Maßnahmen, die die Unterrichtsgestaltung und Lehrerfortbildung betreffen
5. 4. Unterrichtsforschung
5. 5. Außerschulische Unterstützung


5.1. Einleitung

Die Analyse der Ergebnisse (siehe den 2. Zwischenbericht, Teil I, S 58 ff.) zeigte, dass

  1. das Wissen der Schülerinnen in erster Linie vom Unterrichtsangebot der jeweiligen Schule abhängig ist. Wissen und Kenntnisse der Mädchen sind in einem offensichtlich sehr hohen Ausmaß auf das schulspezifische Unterrichtsangebot angewiesen.
  2. sowohl in Bezug auf das Allgemeinwissen als auch in Bezug auf das Fachwissen die Unterschiede zwischen Mädchen und Buben vor allem im Bereich der Berufsbildenden Schulen signifikant groß sind.
  3. dort, wo ein identisches Bildungsangebot besteht, die Unterschiede zwar schwächer ausgeprägt, aber noch immer signifikant sind.
  4. Die Ergebnisse geben des weiteren Anlass zu der Vermutung, dass (vgl. den 2. Zwischenbericht, Teil I, S 68 ff.)

  5. Mädchen eher dazu neigen, ihr in Physik (Technik) erworbenes Wissen über größere Zeiträume hinweg zu vergessen als dies bei Buben der Fall ist, es sei denn, es handle sich um Wissen, das für die Mädchen Bedeutung im Sinne von Orientierungswissen hat.
  6. Mädchen bei MC-Tests mit engen Zeitvorgaben schlechter abschneiden als bei "offeneren" Prüfungsformen (vgl. den 2.Zwischenbericht, Teil III, Stadler, H.: Naturwissenschaftlicher Unterricht für Mädchen und Buben - Fachdidaktische Anregungen für einen geschlechtssensiblen Unterricht, S 3f.). Es gibt auch Hinweise darauf, dass Mädchen die Textvorgaben bei engen Vorgaben genauer lesen und auf ungenaue oder falsche Angaben sensibler reagieren.
  7. In der physikdidaktischen Forschung gibt es außerdem Hinweise, dass

  8. Mädchen hinsichtlich Kontext, Methode und Verständnis höhere Ansprüche an die didaktische Qualität von Physikunterricht stellen (vgl. u.a. Stadler 1999, Labudde 1999).

5.2. Maßnahmen die das Bildungssystem Schule als solches betreffen

Aus den bisherigen Analysen und ihrer Interpretation ergeben sich Schlussfolgerungen und Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen. In den folgenden Ausführungen werden zuerst jene Konsequenzen genannt, die sich auf das Bildungssystem Schule als solches beziehen; dann diejenigen, die im Zusammenhang mit Unterricht und Lehreraus- und -fortbildung stehen, und schließlich die, die das Umfeld der Jugendlichen betreffen.

An das Bildungssystem Schule ergeben sich folgende Forderungen (vgl. wieder den 2. Zwischenbericht, Teil I, S 69f. und ebd., Teil III, Stadler, H.: Naturwissenschaftlicher Unterricht für Mädchen und Buben - Fachdidaktische Anregungen für einen geschlechtssensiblen Unterricht):

5.3. Maßnahmen, die die Unterrichtsgestaltung und Lehrerfortbildung betreffen

Wesentliche Kriterien für einen mädchen- und bubengerechten Physikunterricht sind nach gegenwärtiger Auffassung (vgl. u.a., Hoffmann & Häußler & Peters-Haft (1995), Stadler 1998, Labudde & Pfluger (1998))

Unterrichtskonzepte, die sich an den genannten Kriterien orientieren, tragen insbesondere dazu bei, das Selbstbewusstsein der Mädchen im Fach Physik zu stärken und ihr Interesse an diesen Bereichen positiv zu beeinflussen, sind aber auch geeignet, Defizite der Buben, etwa im sozial-kommunikativen Bereich auszugleichen und durch Miteinbeziehung historischer oder gesellschaftlicher Aspekte auch den Blick auf umfassendere Sichtweisen zu öffnen. Maßnahmen, die zur Entwicklung, Etablierung und Dissemination derartiger Unterrichtskonzepte beitragen, sind:

  1. Aufarbeitung, Dokumentation, Weiterentwicklung und Verbreitung bereits vorhandener Ansätze unter Zusammenarbeit von LehrerInnen und Schulen mit FachdidaktikerInnen.
  2. Adaption von Erfahrungen mit in anderen Ländern gewonnenen Unterrichtsansätzen für österreichische Verhältnisse und deren Verbreitung.
  3. Entwicklung, Erprobung und Evaluation von in Lehrveranstaltungen erarbeiteten Unterrichtskonzepten und Materialien. Förderung von Diplomarbeiten zu diesem Thema.
  4. Projekte, in denen unter Zusammenarbeit zwischen LehrerInnen und FachdidaktikerInnen Unterrichtskonzepte entwickelt, erprobt und nach einer Evaluationsphase publiziert werden.
  5. Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer und Lehrerinnen, wo - evtl. unter Einbindung von Studierenden - über längere Zeiträume hinweg Materialien und Konzepte erprobt und weiterentwickelt werden.
  6. Miteinbeziehung von ExpertInnen zu Fragen geschlechtssensiblen Unterrichts bei der Erstellung von Curricula, Erstellung von Richtlinien für Kernstoff etc.

Neben Unterrichtsmaterialien und Unterrichtskonzepten sind für die Unterrichtspraxis auch die Rahmenbedingungen von Bedeutung. Dazu zählen:

Die Realisierung eines derartigen Rahmens könnte gefördert werden durch:

  1. Lehrerfortbildungen, wo LehrerInnen Gelegenheit haben, durch Aktionsforschung Unterrichtsroutinen zu analysieren und Strategien zur Verbesserung ihrer jeweiligen Unterrichtssituation zu entwickeln, und wo die Gelegenheit für sie besteht, geschlechtsspezifische Stereotypien der SchülerInnen zu erkennen und abzubauen.
  2. Sichtbarmachen und Aufarbeitung von Rollenklischees im Unterricht gemeinsam mit Buben und Mädchen. Angebot der Unterstützung der Lehrkräfte durch Personen mit Erfahrung in diesem Bereich.
  3. Förderung von Forschungsarbeiten, in denen diejenigen Bedingungen an Schule und im Unterricht analysiert werden, die eines der Geschlechter benachteiligen und sich auf diesbezügliche Fortschritte in der Unterrichtspraxis hemmend auswirken.
  4. Die Bekanntmachung von Forschungsergebnissen zum Thema geschlechtssensibler Unterricht.
  5. Empfehlungen seitens des BMUKs, die dazu führen, dass eine Sensibilisierung und Information der zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen in Hinblick auf eine geschlechtssensible Unterrichtskultur als verbindliches Element in die LehrInnenerausbildung (an PÄDAKs und Universitäten) aufgenommen werden.

Prüfungskultur, Evaluation und Selbstevaluation

  1. Entwicklung, Erprobung und Evaluation alternativer Beurteilungsmethoden (vgl. Labudde 1999) Beispiele dafür sind die Miteinbeziehung

in die Bewertung der Unterrichtsleistung.

  1. Dokumentation von österreichischen Erfahrungen mit alternativen Beurteilungsformen im Hinblick auf ihren Stellenwert für geschlechtssensiblen Unterricht.
  1. Richtlinien für externe Testverfahren:

5.4. Unterrichtsforschung

Vergleicht man österreichische Verhältnisse mit denen der Schweiz und Deutschlands, dann ergibt sich:

Maßnahmen sind:

  1. Erfassung aller Daten im BMUK und in den Stadtschulräten unter Beachtung des Geschlechts (Beispiel: Wahlpflichtfach Physik; Wahl der Maturafächer; etc.)
  2. Erarbeitung einer Studie zum naturwissenschaftlichen Unterricht mit statistisch signifikantem Zahlenmaterial (wobei das Design der Studie von anderen Institutionen, etwa dem IPN Kiel, übernommen werden könnte).
  3. Mikroanalysen, die ein detailliertes Bild von Interaktionen zwischen SchülerInnen und LehrerInnen im naturwissenschaftlichen Unterricht, insbesondere im Physikunterricht, erlauben.
  4. Die Vernetzung von Forschungsaktivitäten der beiden Bildungsministerien (Unterrichts- und Wissenschaftsministerium) zur Förderung von fachdidaktischer gender-Forschung unter Nutzung der in diesem Rahmen möglichen personellen und finanziellen Ressourcen (z.B. durch Förderung von Diplomarbeiten oder Dissertationen auf diesem Gebiet).
  5. Die Vernetzung von fachdidaktischer Forschung zum gegebenen Fragenkomplex mit bestehenden Programmen und Institutionen zur Lehrerfort- und -ausbildung.
  6. Die Vernetzung von Entwicklung und Erprobung von Unterrichtskonzepten mit Lernprozess- bzw. Interaktionsstudien im Hinblick auf geschlechtsspezifische Fragestellungen im Rahmen geförderter Projekte.

5.5. Außerschulische Unterstützung

Eine ausführliche Beschreibung der Zielsetzungen derartiger Programme wird in den Kapiteln zu TOP 4 und 5 gegeben. Vergleicht man internationale Maßnahmenpakete mit österreichischen Gegebenheiten, so fällt auf, dass es zwar ein umfangreiches Maßnahmenpaket, nämlich den Aktionsplan 2000, gibt, dass dieser aber erst zu einem kleinen Teil realisiert wurde. Die bisherigen Einzelmaßnahmen scheinen zwar jede für sich genommen sinnvoll, doch braucht es zur weiteren Realisierung, Vernetzung und Dissemination der avisierten Vorhaben auch die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen. Aus unserer Sicht bieten sich folgende Maßnahmen an:

  1. Intensivierung des Aktionsplans 2000 durch Aufstockung der personellen und finanziellen Ressourcen.
  2. Vernetzung bestehender Institutionen und Aktivitäten. Langfristig gesicherte Finanzierung von sich bereits engagierenden Gruppen, die als Gegenleistung z.B. als verlässliche AnsprechpartnerInnen etwa für Eltern- oder Schulprogramme zur Verfügung stehen.
  3. Schaffung eines geschlossenen schlagkräftigen öffentlich wirksamen Maßnahmenpakets, (vergleichbar etwa mit WISE, s. Beitrag zu TOP 4). Die Einzelmaßnahmen eines derartigen Maßnahmenbündels sollten zwar von einer Stelle aus überregional koordiniert werden, doch soll es regional für Schulen, Jugendliche und Eltern AnsprechpartnerInnen bzw. eine Information der Öffentlichkeit über Internet und Medien geben. Das Programm müsste offen gestaltet sein: kurzfristig sollten sich Personen, Institutionen etc. dazuschalten können, aber das Programm könnte auch insgesamt den Umständen entsprechend erweitert oder aber - bei Nichterfolg einzelner Programmteile - auch gekürzt werden. Institutionen (etwa Universitäten, Österreichische Physikalische Gesellschaft, Volkshochschulen etc.) und Wirtschaft müssten in die Konzeption und Durchführung des Programms bzw. in dessen Finanzierung miteinbezogen werden. Wesentliche Teile eines derartigen Programms sind:

Literatur:

Hoffmann, L, Häußler, P., Peters-Haft, S. (1995): An den Interessen von Jungen und Mädchen orientierter Physikunterricht. Ergebnisse eines BLK-Modellversuchs. IPN-Schriftenreiche Nr. 155. Kiel 1995

Labudde (1998) Labudde, P., Pfluger, D. (1998): Girls in physics: Teaching and learning strategies tested by classroom interventions in grade 11. Paper submitted to International Journal of Science Education.

Labudde, P. (1999): Mädchen und Jungen auf dem Weg zur Physik. Reflexive Koedukation im Physikunterricht. In: Unterricht Physik 10, Nr. 49, 4 - 10.

Stadler, H. (1998): Die Bewegung der Erde. Ein Einführungsunterricht in die Mechanik. In: Unterricht Physik 9, Nr. 46, 24 - 34

Stadler, H. (1999): How girls and boys use language in physics class. Paper presented at the Second International Conference of the European Science Education Research Association (ESERA), Kiel 1999.

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