Die Bewegung der Erde

Ein Einführungsunterricht in die Mechanik

Von Helga Stadler
Kurzfassung eines Artikels aus NiU 9 (1998) Nr. 46, S 24-34.

Inhalt und Methode
Der Ablauf der einzelnen Unterrichtseinheiten
Warum merken wir nichts von der Bewegung der Erde?
Gibt es Experimente, mit deren Hilfe wir auf eine Bewegung der Erde schließen können?
Wird die Erde irgendwann stehen bleiben?
Warum bewegt sich die Erde ohne Antrieb?
Warum fliegt die Erde nicht einfach davon?

Wir müssen verstehen lehren.

Das heißt nicht: es den Kindern nachweisen, so dass sie es zugeben müssen, ob sie es nun glauben oder nicht, Es heißt: sie einsehen lassen, wie die Menschheit auf den Gedanken kommen konnte (und kann) ... Die Wege der Beobachtung und des Denkens lassen sich schlichten, ohne an Exaktheit zu verlieren. Wir erkennen das weniger aus Lehrbüchern als aus der Geschichte. Hier wieder mir selten aus einem Abriss der Geschichte der Astronomie oder der Physik. Mit Sicherheit aber aus den Aufzeichnungen der "alten" Forscher selber aus der Zeit, da die Naturwissenschaft in einem dramatischen Geschehen entstand ... Dort wird der Lehrer auf den Ton des ursprünglichen Entdeckens gestimmt, der ihm dann ans den Fragen der Kinder wieder entgegenkommt" (Wagenschein, M.: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken. Bd. II. Stuttgart 1970).

Die nachfolgenden Unterrichtseinheiten sind als erste Einführung in die Grundgesetze der Mechanik zu verstehen und folgen dem historischen Weg, der über eine Änderung des Bezugssystems durch Verlagerung des Standpunkts von der Erde zur Sonne zur Entwicklung der grundlegenden Axiome der Mechanik führt. Dieses Konzept soll den Schülerinnen die Möglichkeit eröffnen, Physik nicht nur über einen technisch-manipulativen Zugang zu begreifen, sondern als Teil des kulturellen Erbes zu verstehen.

 

Inhalt und Methode

Im Mittelpunkt steht die Bewegung der Erde. Dabei sehen wir zunächst von ihrer Eigenrotation ab und konzentrieren uns auf die historisch bedeutsamere Frage nach der Bewegung der Erde um die Sonne. Die Schülerinnen sollen erkennen können, dass sich ihre eigene, scheinbar individuelle Argumentation in der Physikgeschichte wieder findet. Ein Umstand, der das Selbstbewusstsein - insbesondere der Mädchen - in Bezug auf Physik stärken kann.

Jede Unterrichtseinheit ist einer zentralen Frage gewidmet. Die Abfolge der einzelnen Fragenkomplexe orientiert sich grob am historischen Weg von Galilei bis Newton. Können wie die Bewegung der Erde mit unserer Sinnesorganen wahrnehmen oder falls nicht, durch Messungen erkennen? Diesem Problem sind die ersten beiden Stunden gewidmet. Physikalischer Inhalt ist das von Galilei formulierte Relativitätsprinzip. In der 3. und 4. Stunde geht es darum, wie sich die Erde antriebslos durch das Weltall bewegen kann, ohne irgendwann stehen zu bleiben - wie die Körper der Erde. Mit dem galileischen Gedankenexperiment zur Trägheit lässt sich an dieser Stelle der Begriff der Kraft einführen. Der dritte Fragenkomplex (5. und 6. Stunde) führt zurück zum historischen Gesamtkontext: Was ist der Grund für die Abweichung der Erde von der geradlinigen Bewegung? Wir führen die Gravitationskräfte als Ursache für die Bewegung der Himmelskörper ein. Ein erstes qualitatives Verständnis der zwischen den Himmelskörpern wirkenden Anziehungskräfte führt schließlich die Schülerinnen auf das dritte newtonsche Axiom.

Die Unterrichtseinheiten sind so konzipiert, dass die Schüle/rinnen weitgehend eigenständig lernen. Die Lehrerin oder der Lehrer unterstützen und leiten ihren Lernprozess, heben zentrale Fragen hervor, die Leitthemen für die anschließenden Diskussionen. Diskutiert wird zum Teil in Gruppen (geleitet durch Arbeitsblätter, Originaltexte und Informationsblätter), zum Teil im Plenum. Insbesondere bei der Strukturierung der Gruppenergebnisse am Beginn und am Ende jeder Einheit kann lenkend eingegriffen werden, indem mit geeigneten Fragen die Themenvielfalt eingeengt oder auch neue Perspektiven eröffnet werden.

Inhalt und Methode sind in diesem Unterrichtskonzept eng miteinander verknüpft. Der inhaltliche Verlauf gewährleistet, dass - sieht man von den Ausgangsfragen ab - die wesentlichen Problemstellungen nicht vom Lehrer bzw. der Lehrerin an die Schüler/innen herangetragen werden. Sie ergeben sich in der Diskussion. In der Folge muss nur noch ihre zentrale Bedeutung hervorgehoben werden. Damit können sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig eine in sich schlüssige Darstellung der Grundgesetze der Mechanik erarbeiten, geleitet nur durch einige wenige Fragen. Auf eine mathematische Formulierung der Gesetze wurde zunächst verzichtet. Sie kann in der Folge leicht ergänzt werden, etwa in einer allgemeinen Einführung, wie physikalische Gesetze mathematisch formuliert werden (als Proportion unter Definition eines geeigneten Proportionalitätsfaktors).

Der Ablauf der einzelnen Unterrichtseinheiten

Die Unterrichtseinheiten sind jeweils als Einzelstunden konzipiert. Am Beginn einer Einheit wird der Wissens und Diskussionsstand festgehalten, anschließend formuliert der / die Lehrer/in eine für die weitere Argumentation zentrale Frage. Die Frage wird auf ein Plakat oder an die Tafel geschrieben und in Gruppen erörtert. Zur Präzisierung und Erweiterung der Ausgangsfrage erhalten die Schüler/innen nach einiger Zeit Arbeitsblätter. Sie schreiben ihre Hypothesen nieder und versuchen, sie zu begründen. Die Ergebnisse der einzelnen Gruppen werden an der Tafel oder auf einem Plakat zusammengefasst, dabei werden kontroverse Gedanken, falls es keine Einigung gibt, samt deren Begründungen zunächst stehen gelassen. In einer Abschlussdiskussion werden die einzelnen Fragen noch einmal von hinten her aufgerollt, die unterschiedlichen Argumentationswege im Plenum geprüft. Dem Ergebnis wird ein Ausschnitt aus einem Originaltext, z. B. dem Galilei-Dialog, gegenübergestellt. Wichtig ist, Zwischenergebnisse, offene Fragen, Zusammenfassungen etc. festzuhalten, um so den Erkenntnisweg der Schüler/innen zu dokumentieren. Die Jugendlichen brauchen für die Formulierung ihrer Gedanken genügend Zeit, die gesamte Phase sollte allerdings begrenzt bleiben und von einer Phase des praktischen Arbeitens abgelöst werden.

Die Originaltexte können in unterschiedlicher Weise verwendet werden. Empfehlenswert ist, zunächst die Autoren vorzustellen und zu erklären, aus welchen Büchern die Texte stammen und in welchem kulturhistorischen und wissenschaftlichen Kontext sie geschrieben wurden. Den Schüler/innen sollte klar werden, dass sich die Gedanken- und Erlebniswelt Galileis und Newtons in vielem von der ihren unterscheidet. Nach dem ersten Lesen eines Textes ist es nahe liegend, zuerst alle Verständnisschwierigkeiten zu klären, dann könnten die Jugendlichen versuchen, den Text in eigenen Worten nachzuerzählen. Fragen mit Blick auf die Argumentationswege der Autoren werden sich anschließen, Analogien, aber auch Unterschiede zur eigenen Argumentation sind zu entdecken, das Gemeinsame und das Trennende klar herauszuarbeiten, die Bedeutung des Textauszugs für die Gesamtargumentation ist zu diskutieren

1. Stunde: Warum merken wir nichts von der Bewegung der Erde?

Die Lehrerin bzw. der Lehrer fordert die Schüler/innen auf, die Augen zu schließen und zuzuhören: "Es ist tiefe Nacht, du siehst die Sterne, dazwischen einen Planeten. Du schaust genauer hin und erkennst, dass der Planet nicht ruht. Er rast durch den Weltraum. Dazu dreht er sich wie ein Kreisel um sich selbst. Du schaust noch näher hin und erkennst einen Menschen, der auf diesem Planeten sitzt. Dieser Mensch bist du selbst. Du selbst bist es, die auf diesem Kreisel mit hunderttausend Stundenkilometern durch den Raum rast..." Die Schüler/innen erzählen, was sie bei dieser Vorstellung empfinden. Die Frage, warum wir von der Bewegung der Erde nichts merken, wird als Ausgangspunkt für die Bearbeitung eines Arbeitsblattes gewählt.

Die Schülerinnen lernen Galileis Dialog über die beiden Weltsysteme kennen (Informationsblatt). Welche Möglichkeiten hatte Galilei, die jährliche Bewegung der Erde um die Sonne zu beweisen?

2. Stunde: Gibt es Experimente, mit deren Hilfe wir auf eine Bewegung der Erde schließen können?

Die Schüler/innen lesen jene Abschnitte des Galilei-Dialogs, die die Frage behandeln, ob ein Körper, der vom Mast eines Segelschiffes fällt, am Fuße des Masts aufkommt. Sie erhalten Informationen über die historischen Beweise zu den Rotationsbewegungen der Erde.

3. Stunde: Wird die Erde irgendwann stehen bleiben?

Die Schüler/innen haben die Erfahrung gemacht, dass die Bewegungen aller Körper irgendwann zum Stillstand kommen, und die meisten von ihnen sind der Überzeugung, dass dies auch für die Erde gilt. Um die Diskussion auf eine andere Ebene zu führen, erhalten die Schülerinnen eine Zeichnung aus dem Galilei-Dialog: Eine Kugel rollt eine schiefe Ebene hinab und den Gegenhang hinauf. Wie hoch rollt die Kugel hinauf?

4. Stunde: Warum bewegt sich die Erde ohne Antrieb?

Analyse eines Films, der Skateboardfahrer zeigt, die einen Gegenhang hinauffahren. Diskussion des Gedankenexperiments von Galilei zur schiefen Ebene. Durchführung des Realexperiments mit einem überlangen Poster und einem Tischtennisball. Die Schüler/innen lesen die galileische Formulierung des Trägheitsprinzips und vergleichen den Inhalt des Textes mit ihren Ergebnissen.

Was bedeuten die gewonnenen Erkenntnisse für das Problem der Bewegung der Erde um die Sonne?

5. und 6. Stunde: Warum fliegt die Erde nicht einfach davon?

Warum fliegt der Mond nicht einfach davon? Weiche Kraft hält die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne? Welche Eigenschaften hat die Kraft, mit der die Sonne die Erde anzieht? Wo lässt sich diese Kraft noch beobachten? Übergang zum Gravitationsgesetz und zu den Newtonschen Axiomen. (Arbeitsblätter / Computersimulationen / Informationsblätter)

 

Information, wie diese Unterrichtseinheiten von den Schülerinnen und Schülern einer sechsten Klasse eines neusprachlichen Gymnasiums aufgenommen wurden, finden sich in der Studie von Gerda Oelz, "Wir können das nicht, weil wir Mädchen sind." Erhältlich bei: IFF, Abteilung Schule und gesellschaftliches Lernen. A 9020 Klagenfurt, Sterneckstraße 15 (erscheint Dezember 99).

Weitere Information zur Gestaltung der Unterrichtseinheiten, Arbeitsblätter, Informationsblätter etc. finden Sie im NiU 9 (1998) Nr. 46. Wenn Sie mir schreiben, schicke ich Ihnen auch gerne eine Kopie des Artikels. Ich freue mich auch über Ihre Rückmeldungen über Arbeit mit diesem Unterrichtskonzept.

Helga Stadler.