Der Aufsatz ist der Broschüre PHYSIK GEHT UNS ALLE AN. Ergebnisse aus der Nationalfondsstudie "Koedukation im Physikunterricht", hrsg. Universität Bern, Institut für Pädagogik, Abt. Pädagogische Psychologie und Abt. für das Höhere Lehramt 1998, entnommen. Den Autoren/innen  danken wir für die Genehmigung, Auszüge aus dieser Broschüre veröffentlichen zu dürfen.

Physik geht uns alle an

Ergebnisse aus der Nationalfondsstudie "Koedukation im Physikunterricht"

Walter Herzog, Charlotte Gerber, Peter Labudde, Donatina Mauderli, Markus P. Neuenschwander und Enrico Violi

Universität Bern, Institut für Pädagogik

INHALTSVERZEICHNIS:
Weshalb Mädchen den Physikunterricht nicht mögen
Historisches
Geschlechterstereotype
Interessen
Wie sich die Situation der Mädchen verbessern lässt
Kriterien eines "mädchengerechten" Physikunterrichts
Weshalb die Physik uns alle angeht
Zusammenfassung

 

Physik geht uns alle an. Dies möchte wohl niemand bestreiten, doch werfen wir einen Blick in die Klassenzimmer, so stellen wir fest, dass Mädchen wenig Interesse am Physikunterricht zeigen. Auch bleiben ihre Leistungen hinter denjenigen vieler Jungen zurück. Warum ist dies so? Weshalb glauben Schülerinnen weit eher als Schüler, die Physik gehe sie nichts an? Warum finden sich so wenige Frauen in physikalisch-technischen Berufen? Liegt es an Unterschieden in der Begabung? Oder werden die Mädchen nicht ausreichend gefördert? Was könnte pädagogisch bzw. methodisch-didaktisch unternommen werden, um den Physikunterricht für beide Geschlechter zugänglicher zu machen?

Diesen Fragen sind wir in einem Forschungsprojekt nachgegangen, über das im Folgenden berichtet wird. Im ersten Teil geben wir eine Darstellung des Problems. Im zweiten Teil formulieren wir Fragestellung und Methode unserer Untersuchung und stellen die am Projekt beteiligten Schulklassen vor. Im dritten Teil präsentieren wir die wichtigsten Ergebnisse unserer Studie. Im vierten Teil geben wir Einblick in die Evaluation des Projekts. Im fünften Teil diskutieren wir die gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf unsere Ausgangsthese. Im sechsten Teil fassen wir unsere Ausführungen zusammen.

Weshalb Mädchen den Physikunterricht nicht mögen

Es ist kaum möglich, über das Thema Koedukation zu schreiben, ohne pauschalisierend von den Mädchen und den Jungen zu sprechen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass innerhalb der Mädchen und innerhalb der Jungen die individuellen Unterschiede oft größer sind als die Differenzen zwischen den Geschlechtern. Was über die Schülerinnen oder die Schüler gesagt wird, gilt daher nicht für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler, sondern immer nur für den Durchschnitt des betreffenden Geschlechts.

Es ist auch nicht unsere Absicht, alle heranwachsenden Frauen zu naturwissenschaftlich-technischen Berufen zu führen. Was wir jedoch anstreben, ist eine größere Entscheidungsfreiheit für Mädchen. Diese sollen sich nicht einfach deshalb gegen Physik und Technik aussprechen, weil sie in ihrer naturwissenschaftlich-technischen Kompetenz ungenügend oder unangemessen gefördert worden sind. Junge Menschen sollen sich unabhängig von ihrem Geschlecht gemäß ihren Begabungen und Interessen entwickeln können. Insofern versteht sich unser Projekt als ein Beitrag zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frau und Mann in unserer Gesellschaft.

Historisches

Die Koedukation - darunter wird das gemeinsame Unterrichten von Mädchen und Jungen verstanden - bietet seit Mitte der 80er Jahre Anlass zu hitzigen Debatten in Pädagogik und Öffentlichkeit. Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts war es üblich, vor allem auf der Stufe Gymnasium, Mädchen und Jungen in geschlechtergetrennten Klassen zu unterrichten. Mit dem Ziel, den Frauen zu gleichen Chancen in Beruf und Politik zu verhelfen, kämpften insbesondere Frauenrechtlerinnen für den gemeinsamen Unterricht der Geschlechter. In den 60er und 70er Jahren stellten in der Schweiz die meisten Gymnasien auf koedukativen Unterricht um. Heute ist die formale Gleichheit der Bildungschancen insofern erreicht, als im gymnasialen Bereich die Mädchen genauso häufig vertreten sind wie die Jungen.

Demgegenüber belegt die Schulforschung, dass in qualitativer Hinsicht der gemeinsame Unterricht den Mädchen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern - entgegen den Erwartungen - kaum Vorteile gebracht hat. Die rein organisatorische Zusammenführung der Geschlechter scheint den Schülerinnen den Zugang zu Fächern wie Mathematik, Physik und Chemie eher erschwert als erleichtert zu haben. Insbesondere im Physikunterricht berichtet eine Reihe von Studien von Motivations- und Leistungsproblemen der Schülerinnen.

Ist die Koedukation vielleicht der falsche Weg zur Gleichstellung der Geschlechter im Bildungsbereich? Muss ein Fach wie die Physik (wieder) geschlechtergetrennt unterrichtet werden, um den Mädchen gerecht zu werden? Nicht nur die bisherige Forschung lässt diese Fragen kaum im zustimmenden Sinn beantworten, auch die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte sprechen sich im allgemeinen eher gegen die Wiedereinführung von geschlechtshomogenen Klassen aus. Qualitative Interviews mit Schülerinnen und Schülern, die sich an unserem Projekt beteiligt haben, bestätigen diese Haltung. Eine der befragten Schülerinnen erklärte zum Beispiel:

".. es gibt Dinge, welche die Mädchen besser wissen, und [solche, welche] die Jungen besser wissen. Dann kann man es irgendwie auch verbinden, und dann wird es interessant" (Marianne).

Davon überzeugt, dass eine Verbesserung der Situation der Mädchen nicht über den Weg der erneuten Trennung der Geschlechter angestrebt werden sollte, haben wir nach Möglichkeiten gesucht, die Chancengleichheit der Geschlechter im Bereich der physikalischen Bildung durch eine Verbesserung des koedukativen Unterrichts zu verwirklichen. Dabei hatten wir Verbesserungen vor Augen, von denen die Mädchen profitieren können, ohne dass die Jungen benachteiligt werden. Um diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen, verwenden wir Anführungs- und Schlusszeichen, wenn von "mädchengerechtem" Physikunterricht die Rede ist.

Geschlechterstereotype

Wer eine Situation verbessern will, fragt zunächst nach den Gründen ihres Ungenügens. Woran liegt es also, dass der Physikunterricht für Schülerinnen weniger attraktiv ist als für Schüler? Aus einer Vielzahl von Gründen wollen wir im Folgenden zwei herausgreifen, die uns besonders wichtig scheinen, nämlich die Geschlechterstereotype und geschlechtstypische Interessensunterschiede.3

Obwohl niemand einer stereotypen Wahrnehmung der Geschlechter verfallen sein will, spielen Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit im Physikunterricht eine wichtige Rolle. Zum Zweck der Illustration benutzen wir wiederum Auszüge aus den erwähnten Interviews mit Schülerinnen und Schülern. So meinte einer unserer jugendlichen Interviewpartner auf die Frage, ob es für Mädchen und Jungen gleich schwierig sei, dem Physikunterricht zu folgen:

".. sie [die Mädchen] kommen ( ... ) alle so in den Unterricht, dass sie sagen: jetzt noch Physik, noch eine Naturwissenschaft mehr. So gesehen, glaube ich, machen sie es sich selber schwer. Aber wenn sie wirklich ohne Vorurteil kämen, dann wäre es, glaube ich, für alle gleich [schwierig] " (Oliver).

Oliver meint, die Mädchen seien für ihre Probleme selber verantwortlich. Wären sie ohne Vorurteile, würden sie gleiche Leistungen erbringen wie die Jungen. Doch so einfach ist es nicht! Denn anders als die Schüler haben die Schülerinnen mit einem für sie unvorteilhaften Geschlechterstereotyp zu kämpfen.

Unter einem Geschlechterstereotyp versteht man die Zuordnung von Eigenschaften, Charakterzügen oder Fähigkeiten aufgrund des Geschlechts einer Person. Derartige Zuschreibungen finden im Falle von mathematischen, physikalischen und technischen Kompetenzen in unserer Gesellschaft sehr ausgeprägt statt. Männer gelten als naturwissenschaftlich-technisch begabt, Frauen hingegen werden entsprechende Fähigkeiten abgesprochen. Das hat solange wenig Auswirkungen auf den Schulerfolg von Mädchen, wie sie sich ihrer Geschlechtsidentität nicht zu versichern brauchen. Im Primarschulbereich gibt es denn auch kaum Unterschiede in den Interessen an Schulfächern und in den schulischen Leistungen zwischen Schülerinnen und Schülern. Das ändert sich mit dem Eintritt in die Pubertät. Insofern eine wichtige Entwicklungsaufgabe dieser Lebensphase die Erarbeitung einer geschlechtlichen Identität ist, entsteht für weibliche Jugendliche ein Dilemma: Sollen sie dem Stereotyp ihres Geschlechts nachleben, das für Physik und Technik wenig Raum offen hält, oder sollen sie sich auf den Physikunterricht einlassen und Attribute der Männlichkeit in ihre Geschlechtsidentität aufnehmen? Jungen sind diesem Dilemma nicht ausgesetzt, da die Wahrnehmung des Faches Physik mit dem Stereotyp ihres Geschlechts in Übereinstimmung steht.

Olivers Analyse der Situation der Mädchen im Physikunterricht stellt ein gesellschaftlich und kulturell bedingtes Problem als individuelles dar. Damit wird von der Tatsache abgelenkt, dass es Jungen einfacher haben, sich mit einem Fach zu identifizieren, das wenig Entsprechungen zum Stereotyp der Weiblichkeit aufweist.

Interessen

" Vielleicht ist einfach das Interesse ungleich. Manchmal, wenn irgendein technisches Thema kommt, dann fragen die Jungen viel häufiger nach, sind interessierter daran" (Christine).

" ... die Jungen interessieren sich mehr, darum lernen sie mehr. Dann ist´s eh klar, dass sie besser sind" (Marianne).

Unter Interesse soll in unserem Zusammenhang das Verhältnis einer Person zu einem Gegenstand verstanden werden. Interessen werden kulturell vermittelt und gelten als zuverlässige Determinanten für schulischen Lemerfolg. Sie können sich im kognitiven, im emotionalen und im evaluativen Bereich auf da: Verhalten auswirken.

Im kognitiven Bereich

Ist Interesse vorhanden, lernt eine Person einerseits mehr über einen Gegen stand, wodurch sie weiteres Wissen leichter mit dem bereits bekannten verbinden kann. Andererseits lernt sie auch etwas über sich selbst: Es gehört zu ihre individuellen Besonderheit, dass sie sich für einen bestimmten Gegenstand interessiert. Im herkömmlichen Physikunterricht haben viele Schülerinnen nicht die Möglichkeit, auf ihre Vorkenntnisse aufzubauen. Folglich erfahren sie auch nicht, dass Physik für sie interessant sein könnte.

Im emotionalen Bereich

Sich mit einem interessanten Gegenstand auseinanderzusetzen, ist mit angenehmer Spannung verbunden. Nach der erfolgreichen Lösung einer Aufgab stellen sich Kompetenzgefühle ein. Da derartige Erfolgserlebnisse bei Mädchen im Physikunterricht weniger auftreten, vermögen sie auch weniger Freude am Fach zu gewinnen.

Im evaluativen Bereich

Der Wert, den ein Gegenstand für eine Person hat, wird entsprechend seiner Bedeutung für das eigene Leben eingeschätzt. Dementsprechend wird ein Schulfach im Hinblick auf seine Bedeutung für die persönliche und berufliche Zukunft beurteilt. Auf den Physikunterricht bezogen heißt dies, dass Schülerinnen dem weiblichen Stereotyp entsprechend das Fach weniger positiv bewerten als ihre Mitschüler. Wenn Schülerinnen allerdings Gründe für eine positive Bewertung der Physik haben, dann setzen sie sich genauso motiviert im Unterricht ein wie die Schüler. So begründete eine Schülerin die Wichtigkeit des Faches Physik damit, dass sie Medizin studieren will:

".. da habe ich einmal eine Medizinstudentin gefragt, was man so macht. Da hat sie gesagt, Physik kommt, Chemie kommt Deshalb habe ich gedacht, in diesen Fächern muss ich ein wenig mehr aufpassen als in den andern (...)" (Gaby).

Blicken wir auf diese Ausführungen zu den Geschlechterstereotypen und den Interessensunterschieden zwischen den Geschlechtern zurück, dann erscheint es plausibel, dass Mädchen im Physikunterricht geringeren Erfolg erwarten als Jungen. Jedenfalls brauchen wir nicht angeborene Unterschiede in der Begabung für Mathematik und Physik zu bemühen, um die Differenz der Geschlechter bezüglich Motivation und Leistung im Physikunterricht zu erklären.

Die Probleme der Mädchen im koedukativen Physikunterricht haben im wesentlichen damit zu tun, dass sie erstens aufgrund ihres Geschlechts weniger Erfahrungen machen, die ihr Interesse am Physikunterricht wecken bzw. stärken könnten, und dass sie zweitens durch das weibliche Geschlechterstereotyp in ein Dilemma verstrickt werden, das sie der Physik gegenüber in einen Zwiespalt versetzt. In beiden Fällen haben wir es nicht mit einem kognitiven, sondern mit einem motivationalen Problem zu tun.

Wie sich die Situation der Mädchen verbessern lässt

Die vorausgehende Analyse zeigt: Die geringe Begeisterung von Mädchen und Frauen für die Physik sowie die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern im Physikunterricht sind nicht eine Folge differenter Begabungen, sondern wurzeln in Geschlechterstereotypen und Interessensunterschieden, die für die Schülerinnen benachteiligend sind. Insofern sprechen wir von einem motivationalen Problem der Mädchen. Anders als die Begabung, die als kaum beeinflussbar gilt, ist die Motivation pädagogischer Einwirkung zugänglich. Dementsprechend basiert unser Projekt auf Maßnahmen, die die Verbesserung der motivationalen Bedingungen im Physikunterricht zum Ziel haben.

Kriterien eines "mädchengerechten" Physikunterrichts

Wie lässt sich die Motivation von Mädchen im koedukativen Physikunterricht verbessern? Aufbauend auf unserer Analyse der vorhandenen Forschungsliteratur haben wir sieben Kriterien eines "mädchengerechten" Physikunterrichts erarbeitet. Die Kriterien, die zwischen einem fachlichen und einem personalen Pol auf einer Geraden liegen, können als Basis des "didaktischen Dreiecks verstanden werden (vgl. Abbildung 1).

Im Einzelnen geht es bei den sieben Kriterien um folgendes:

  1. Vorerfahrungen: Der Unterricht ist so zu gestalten, dass auf die unterschiedlichen Vorerfahrungen von Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Physik und Technik Rücksicht genommen wird. Die Vorkenntnisse d Mädchen und Jungen sind didaktisch zu reflektieren. Die Lehrperson soll sich in der Wahl von Beispielen und Veranschaulichungen an den außerschulischen Erfahrungen von Jungen und Mädchen gleichermaßen orientieren.

  2. Sprache: Der Unterricht ist sprachlich so zu gestalten, dass er für beide G schlechter verständlich ist. Es ist darauf zu achten, dass nicht unreflektiert Ausdrücke verwendet werden, die nur dem einen Geschlecht geläufig sind. Termini, die auch im Alltag verwendet werden, sind sorgfältig zu klären Die physikalische Fachsprache soll nur mäßig gebraucht werden. Es ist eine Unterrichtssprache zu verwenden, bei der der Übergang von der phänomenalen zur modellhaften Wirklichkeit nachvollziehbar wird.

  3. Kontextbezug: Der Unterricht ist kontextuell zu gestalten. Themen und Inhalte werden nicht abstrakt dargeboten, sondern in Bezug auf deren Bedeutung für den Alltag oder für andere Fächer. Die Stoffe werden in wissenschaftshistorische oder -theoretische Kontexte eingebettet oder im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Probleme dargestellt. Durch Kontextualisierung der Themen kann gezeigt werden, dass die Physik nicht mit der Natur als einem abstrakten Gegenstand zu tun hat, sondern mit einem Verhältnis, das Menschen zu bestimmten Zwecken und aufgrund spezifischer Interessen mit der Natur eingehen.

  4. Lernstil: Der Unterricht hat auf den besonderen Lern- und Arbeitsstil der Mädchen Rücksicht zu nehmen. Dieser ist eher kooperativ als kompetitiv. Den Mädchen ist ausreichend Zeit für das Lösen von Aufgaben einzuräumen.4 Es ist darauf zu achten, dass der expansive Umgang von Jungen mit technischen Geräten den aufgabenorientierten Lernstil der Mädchen nicht stört, Die Schülerinnen und Schüler sind möglichst aktiv am Unterricht zu beteiligen. Gruppenarbeiten sind geschlechtshomogen durchzuführen.

  5. Kommunikation: Der Unterricht ist kommunikativ und argumentativ zu gestalten. Die Sprache ist als Medium einzusetzen, um physikalische Alltagsvorstellungen aufzudecken und zur Diskussion zu stellen. Die Auseinandersetzung mit den Wissensinhalten soll diskursiv erfolgen. Idealerweise fungiert die Schulklasse als Ort der Wahrheitsfindung durch die experimentierende und argumentierende Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand. Dies kann mündlich wie auch schriftlich geschehen.

  6. Attributionsstil: Der Unterricht hat unvorteilhaften Leistungsattributierungen entgegenzuwirken. Lehrkräfte dürfen nicht die bei den Mädchen verbreitete Neigung verstärken, Misserfolge auf fehlende Begabung und Erfolge auf günstige äußere Umstände zurückzuführen. Bei der Gestaltung des Unterrichts und bei Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern ist darauf zu achten, dass beide Geschlechter in ihrem Leistungsselbstvertrauen gestärkt werden.

  7. Geschlechtsidentität: Im Unterricht ist der Eindruck zu vermeiden, die Physik sei eine Männerdomäne. Die aktive Teilnahme am Unterricht darf für die Mädchen nicht in Widerspruch zur Entwicklung ihrer weiblichen Geschlechtsidentität geraten. Es ist zu vermeiden, dass der Physikunterricht zum Antistereotyp des Weiblichen wird.

[Die nachfolgenden, hier nicht wiedergegebenen Kapitel beschreiben Vorerhebungen, Durchführung und Ergebnis des Interventionsprojekts.]

Weshalb die Physik uns alle angeht

Die Gleichheit der Chancen und die Gerechtigkeit ihrer Verteilung stellen in einem öffentlichen Bildungssystem wesentliche Qualitätskriterien dar. Eine Gesellschaft, die sich in ihrer politischen Verfassung zur Gleichstellung von Mann und Frau bekennt, kann nicht untätig sein, wenn sich herausstellt, dass der schulische Unterricht in gewissen Fächern die Schülerinnen benachteiligt. Aufgrund von tief verwurzelten Stereotypen, Vorurteilen und Ideologien sehen sich Mädchen und Frauen in einem zentralen Bereich der naturwissenschaftlichen Bildung Hindernissen ausgesetzt, die ihre Interessens- und Leistungsentwicklung nachhaltig beeinträchtigen. Physik und Technik werden zu unzugänglichen Zonen der wissenschaftlichen Kultur, deren berufliches Potential von den Frauen nicht ausgeschöpft werden kann. Wenn Mündigkeit ("Maturität") als Ziel der gymnasialen Bildung darin besteht, dass junge Menschen über ihre persönliche und berufliche Zukunft selbstbestimmt entscheiden können, dann wird dem weiblichen Geschlecht in einem wichtigen Bereich der Allgemeinbildung ein Stück Freiheit vorenthalten.

Ziel des Projekts, über das wir vorausgehend berichtet haben, war es, Maßnahmen zu entwickeln, die den Entscheidungsspielraum von Schülerinnen der Sekundarstufe II im Bereich der naturwissenschaftlichen Bildung erweitern. Die Strategie zur Verbesserung der Situation von Mädchen im koedukativen Physikunterricht, die wir gewählt haben, geht davon aus, dass die wesentlichen Ursachen für die Schwierigkeiten der Schülerinnen nicht im Bereich der Begabung, sondern in den motivationalen Bedingungen des Unterrichts liegen. Als Grundlage für unsere Interventionsstrategie haben wir sieben Kriterien erarbeitet, denen ein koedukativer Unterricht zu genügen hat, wenn die Mädchen in ihrer physikalischen Bildung genauso gefördert werden sollen wie die Jungen. Die an diesen Kriterien orientierten Maßnahmen haben sich im Wesentlichen als wirksam erwiesen. Je mehr Kriterien eines "mädchengerechten" Unterrichts in den Versuchsklassen verwirklicht worden sind, desto besser sind das Interesse und die Leistungen der Schülerinnen im Fach Physik ausgefallen. Dass auch die Schüler von den Maßnahmen profitiert haben, zeigt, dass ein "mädchengerechter" Unterricht keine Benachteiligung der Jungen zur Folge haben muss. Insofern die Evaluation des Projekts den positiven Ausgang der Intervention bestätigt, dürfen die hier vorgestellten Maßnahmen als eine wirksame Strategie zur Verbesserung der physikalischen Bildung von Mädchen und Frauen empfohlen werden.

Obwohl für die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen noch eine Reihe von weiteren Maßnahmen nötig sein wird, verweisen die Ergebnisse unserer Studie auf einen gangbaren Weg zur Verbesserung der Situation von Schülerinnen im koedukativen Physikunterricht. Die Erkenntnis, dass über die Beeinflussung der motivationalen Unterrichtsbedingungen die physikalische Bildung von Mädchen wirksam gefördert werden kann, lässt darauf hoffen dass dem weiblichen Geschlecht bei der Planung der beruflichen Zukunft mehr Autonomie zuwachsen wird als dies bisher der Fall war. Zweifellos bildet die Schule nur ein Glied in einer langen Kette von Einflüssen, welche die Ge. schlechter in ihren sachlichen und persönlichen Interessen prägen. Doch wenn Politik, Familie und Schule gleichermaßen erkennen, dass die physikalische Bildung durch pädagogische Maßnahmen beeinflusst werden kann, dann wer den wir schon bald ohne Einschränkung des Geschlechts sagen können: Physik geht uns alle an.

 

Zusammenfassung

Von der Beobachtung ausgehend, dass Mädchen an mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern weniger Interesse zeigen und ihre Leistungen meist auch schlechter sind als die ihrer Klassenkameraden, haben wir nach Gründen gesucht, die das Phänomen erklären lassen. Aus der bisherigen Forschung geht hervor, dass angeborene Begabungsunterschiede für die beobachteten Differenzen kaum verantwortlich gemacht werden können - dafür sprechen auch die Ergebnisse der von uns durchgeführten Intelligenzsubtests. Wenn wir kognitive Ursachen ausschließen, dann müssen den unterschiedlichen Interessen und Leistungen motivationale Bedingungen zugrunde liegen. Auf dieser Basis haben wir eine Interventionsstudie geplant und durchgeführt. Beteiligt an der Studie waren 26 Gymnasial- und Seminarklassen mit insgesamt 510 Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Unterrichtet wurden die Klassen von 24 Lehrkräften.

Es war unsere Absicht, Maßnahmen zu entwickeln, welche die Situation der Mädchen im koedukativen Physikunterricht verbessern, ohne die Jungen zu benachteiligen. Gemeinsam mit fünf Physiklehrkräften entwickelten wir zwei "mädchengerechte" Unterrichtseinheiten zur Optik und Kinematik, die je 20 Lektionen umfassen. Im Laufe des Projekts haben die Jugendlichen verschiedene Fragebogen und Tests bearbeitet. Vor Beginn der Intervention (Eingangserhebung) ging es darum, etwas über die Einstellungen und Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler zu erfahren. Erwartungsgemäß verfügten die Schülerinnen unserer Stichprobe über weniger physikalisch-technische Vorerfahrungen und über ein geringeres Leistungsselbstvertrauen bezüglich des Faches Physik als ihre Klassenkameraden. Die nach Abschluss jeder Unterrichtseinheit durchgeführten Leistungstests Optik und Kinematik erlaubten es, die Auswirkungen der Intervention auf die Leistung der Jugendlichen zu überprüfen. Die Schlusserhebung nach erfolgter Intervention hatte zum Zweck, Informationen über den erfahrenen Unterricht, die Interessen und Erwartungen in Bezug auf die Physik sowie über den Verlauf der Intervention aus Sicht der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen. Aufgrund der Daten der Schlusserhebung fügten wir die Klassen zu vier Analysegruppen zusammen, was es erlaubte, die Wirkungen der Intervention nach dem Grad der Mädchengerechtigkeit des Unterrichts zu beurteilen.

Die Analyse der Daten bestätigt im Wesentlichen die Wirksamkeit der entwickelten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Schülerinnen im koedukativen Physikunterricht. In jenen Klassen, in denen mehr Kriterien eines "mädchengerechten" Physikunterrichts verwirklicht worden sind, ist nicht nur das Leistungsniveau der Mädchen höher, es ist auch ihr Interesse am Fach über die Zeit der Intervention hinweg gestiegen. Was sich nicht verändert hat, ist allerdings das relative Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern innerhalb der "mädchengerecht" unterrichteten Klassen. Auch wenn sich Interesse und Leistung der Mädchen absolut gesehen verbessert haben, konnte ihr relativer Rückstand gegenüber den Jungen nur geringfügig abgebaut werden. Es muss offen bleiben, ob wir es dabei mit einem Effekt zu tun haben, der auf die relativ kurze Dauer der Intervention (zweimal 20 Lektionen) zurückzuführen ist oder auf die Tatsache, dass es den Lehrkräften unserer Versuchsklassen nur im Ansatz gelungen ist, die eher psychologisch als didaktisch orientierten Kriterien eines "mädchengerechten" Physikunterrichts umzusetzen.

Von den umgesetzten Maßnahmen erweisen sich die folgenden als wirksam, um den nachteiligen Folgen der weiblichen Sozialisationsbedingungen entgegenzuwirken und die Schülerinnen stärker in den Unterricht einzubeziehen (vgl. Tabelle 5): Aufbauen auf Vorwissen, das beiden Geschlechtern geläufig ist; Nutzen für den Alltag und andere Fächer aufzeigen; deduktive Einstiegsmethoden vermeiden; auf Bedürfnisse und Meinungen der Schülerinnen und Schüler Rücksicht nehmen; Alltags- und Phänomenbezug herstellen; Mathematisierungsgrad gering hatten; häufig Gruppen- und Zusammenarbeit durchführen (Bildung von geschlechtshomogenen Gruppen); Gelegenheit für Diskussionen und Schülerversuche schaffen; Schülervorträge und Projektarbeiten ein setzen; Lehrervorträge eher vermeiden; ein kooperatives Klassenklima schaffen-, die Geschlechter gleich behandeln, den Unterricht so aufbauen, dass er Jungen und Mädchen gleichermaßen gerecht wird.

Wie die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen, ist ein "mädchengerechter Unterricht auch in anderer Hinsicht ein "guter" Unterricht. Je "mädchengerechter" in ihrer Klasse unterrichtet wurde, desto kompetenter beurteilten d Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkräfte hinsichtlich der Vermittlung und Erklärung des Unterrichtsstoffs. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Erfüllung allgemeiner didaktischer Ansprüche zwar eine notwendige, ab noch nicht hinreichende Bedingung für die Geschlechterfairness des Unterrichts ist. Es bedarf zusätzlicher Maßnahmen, wie sie in unseren sieben Kriterien genannt werden, damit der Unterricht für Mädchen und Jungen gleichermaßen förderlich ist.